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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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war.«
    Sie blickte über das weiß gesprenkelte Wasser nach Osten, wo sich die Stadt Hagi bereits in der Ferne verloren hatte. Auch Oshima lag weit hinter ihnen und man konnte nur noch die Wolken über dem Vulkan der Insel erkennen. Sie hatten sie bei Nacht passiert, was Maya bedauerte, denn sie hatte viele Geschichten über die frühere Piratenfestung gehört und hätte sie deshalb gern gesehen, doch das Schiff konnte sich keine Verzögerung leisten: In wenigen Tagen würde sich der aus Nordosten kommende Wind drehen und sie mussten ihn ausnutzen, damit er sie zur Westküste trieb.
    Â»Shizuka hat getan, was ihr gefiel«, fuhr Maya fort. »Aber dann hat sie Ishida geheiratet und nun ist sie eine ganz normale Frau.«
    Sada lachte. »Unterschätze Muto Shizuka nicht! Sie ist immer viel mehr gewesen, als sie dem äußeren Anschein nach war.«
    Â»Außerdem ist sie Sunaomis Großmutter«, brummelte Maya.
    Â»Du bist eifersüchtig, Maya. Das ist dein Problem!«
    Â»Es ist einfach ungerecht«, sagte das Mädchen. »Wäre ich ein Junge, dann würde kein Hahn danach krähen, dass ich ein Zwilling bin. Wäre ich ein Junge, dann wäre Sunaomi nie zu uns gekommen, und Vater würde gar nicht daran denken, ihn zu adoptieren!« Und ich hätte den kleinen Feigling nie gedrängt, zum Schrein zu gehen . Sie schaute Sada an. »Hast du dir nie gewünscht, ein Mann zu sein?«
    Â»Doch, als Kind habe ich das oft getan. Selbst im Stamm, wo die Frauen viele Freiheiten besitzen, ziehtman Jungen vor. Ich habe immer gegen sie angekämpft und versucht, sie zu übertrumpfen. Muto Kenji pflegte zu sagen, das erkläre, warum ich so groß und stark wie ein Mann geworden sei. Er hat mich gelehrt, die Jungen zu imitieren, ihre Sprache zu benutzen und ihre Gesten nachzuahmen. Jetzt kann ich entweder Mann oder Frau sein und genau das gefällt mir.«
    Â»Das hat er uns auch beigebracht!«, rief Maya, denn wie alle Kinder des Stammes hatte sie Sprache und Gesten sowohl der Männer als auch der Frauen gelernt und konnte als beides durchgehen.
    Sada musterte sie eindringlich. »Ja, du könntest auch ein Junge werden.«
    Â»Wirklich, ich bedauere es kein bisschen, fortgeschickt zu werden«, vertraute Maya ihr an. »Denn ich bin wie du – und ich liebe Taku!«
    Â»Alle lieben Taku«, erwiderte Sada lachend.
    Maya bekam keine Gelegenheit mehr, etwas von der faszinierenden, nahezu unverständlichen Sprache der Matrosen aufzuschnappen – manche von ihnen kaum älter als sie –, denn der Wind frischte auf, und zu ihrer Verärgerung musste sie feststellen, dass sie kein guter Seemann war. Das Schwanken des Schiffes verursachte ihr Kopfschmerzen und ihr eigener Körper wurde ihr unerträglich. Sada kümmerte sich ohne viel Aufhebens und ohne große Worte des Mitgefühls um sie, hielt ihren Kopf, wenn sie sich erbrach, und wischte ihr im Anschluss das Gesicht ab. Sie flößte ihr Tee in winzigen Schlucken ein, um ihre Lippen zu befeuchten, und wenn das Schlimmste überstanden war, legte sie sie hin, betteteihren Kopf in ihren Schoß und legte ihre lange, kühle Hand auf Mayas Stirn. Sada meinte, dicht unter der Haut das Wesen des Tieres spüren zu können wie ein Fell, dunkel, fest und schwer, aber weich und um Liebkosung bettelnd. Maya empfand Sadas Berührungen als die einer Pflegerin oder Mutter. Sie erholte sich von der Krankheit, nachdem das Schiff das Kap umrundet und der Wind sich genau rechtzeitig gedreht hatte, um sie zur Küste zu bringen, und als sie zu Sadas scharf geschnittenem Gesicht mit den hohen, jungenhaften Wangenknochen aufsah, dachte sie, dass es ein Glück wäre, für immer in ihren Armen zu liegen, und wie als Antwort auf diesen Gedanken erbebte sie am ganzen Körper. In diesem Augenblick wurde sie von einer Leidenschaft für das ältere Mädchen erfasst, von einer Mischung aus Bewunderung und Verlangen, und dies war ihre erste Erfahrung der Liebe. Sie kuschelte sich an Sada, schlang ihre Arme um sie, fühlte ihre Muskeln, stark wie die eines Mannes, und die überraschende Weichheit ihrer Brüste. Sie schmiegte sich an Sadas Hals, halb wie ein Kind, halb wie ein Tier.
    Â»Bedeutet diese Zuneigung, dass es dir wieder besser geht?«, sagte Sada und drückte Maya an sich.
    Â»Ein bisschen. Es war schrecklich. Das war meine erste und letzte

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