Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Zellen schien hellwach zu sein, erfüllt von einer Mischung aus Furcht und Erregtheit, einer körperlichen Sehnsucht nach Zuneigung und einem Schamgefühl, das er sich nur halb eingestand.
Akio war vor Wut hastig und grob. Hisao blieb stumm, weil er die latente Gewalt spürte und sie nicht auf sich selbst lenken wollte. Dennoch führte der Akt eine flüchtige Entspannung herbei. Akio klang fast sanft, als er dem Jungen sagte, er solle schlafen und nicht aufstehen, egal, was er höre, und Hisao bekam für einen kurzen Moment die Zärtlichkeit, nach der er sich sehnte, als ihm sein Vater über Haar und Nacken strich. Nachdem Akio das Zimmer verlassen hatte, vergrub sich Hisao unter seiner Decke und versuchte, seine Ohren zu verschlieÃen. Es gab ein paar gedämpfte Geräusche, Keuchen und Gezappel, ein dumpfes Plumpsen, ein Schleifen auf Dielen und dann auf der Erde.
Ich schlafe schon , redete er sich immer wieder ein, und noch vor Akios Rückkehr fiel er tatsächlich in einen Schlaf, der so tief und traumlos war wie der Tod.
Am nächsten Morgen lag Gosaburos Leiche auf dem Dorfweg. Er war auf die Art des Stammes mit der Garrotte erwürgt worden. Man wagte nicht einmal, ihn zu betrauern.
»Niemand verlässt ungestraft die Kikuta«, sagte Akiozu Hisao, als sie sich zum Aufbruch bereit machten. »Denk daran. Sowohl Takeo als auch sein Vater haben es gewagt, dem Stamm den Rücken zu kehren. Isamu ist dafür hingerichtet worden und so wird es auch Takeo ergehen.«
Akashi war in den Jahren der Auseinandersetzungen und des Chaos entstanden, als die Kaufleute vom Bedarf der Krieger an Proviant und Waffen profitiert hatten. Einmal reich geworden, hatten sie nicht eingesehen, sich von den gleichen Kriegern ausplündern und ihres Wohlstandes berauben zu lassen, und daher hatten sie sich zusammengeschlossen, um ihre Waren und ihren Handel zu schützen. Die Stadt war von tiefen Gräben umgeben und jede ihrer zehn Brücken wurde von Soldaten des städtischen Heeres bewacht. Es gab mehrere groÃe Tempel, die den Handel sowohl in materieller als auch in spiritueller Hinsicht beschützten und förderten.
Als die Kriegsherren an Macht gewannen, begehrten sie schöne Dinge und schöne Kleider, Kunstwerke und weitere Luxusgüter aus Shin und anderen Gegenden, und diese schafften die Kaufleute des freien Hafens gern herbei. Die Familien des Stammes hatten alle anderen Kaufleute der Stadt früher an Macht übertroffen, doch der wachsende Wohlstand der Drei Länder und das Bündnis mit den Otori hatten viele Muto nach Hofu auswandern lassen, und die verbliebenen Kikuta waren während Akios selbst gewähltem Exil in den Bergen mehr an Handel und Gewinn interessiert gewesen als an Spionage und Mord.
»Die Zeiten sind vorüber«, sagte Jizaemon, Inhaber eines florierenden Importgeschäftes, zu Akio, nachdem er diesen halbherzig begrüÃt hatte. »Wir müssen mit der Zeit gehen. Wir können erfolgreicher sein und die Ereignisse besser kontrollieren, indem wir Waffen und lebensnotwendige Güter liefern oder Geld verleihen. Wir sollten die Vorbereitungen auf den Krieg unbedingt fördern, und vielleicht haben wir ja Glück und können seinen Ausbruch vermeiden.«
Hisao glaubte, sein Vater würde ebenso gewalttätig auf diese Worte reagieren wie auf jene Gosaburos, und der Mann tat ihm leid. Er wollte nicht, dass Jizaemon starb, bevor er ihm nicht einige seiner Schätze gezeigt hatte, mechanische Geräte zur Messung der Stunden, Glasflaschen und TrinkgefäÃe, Spiegel und köstliche neue Nahrungsmittel, süà und würzig, SüÃholz und Zucker â Wörter, die er nie zuvor gehört hatte.
Die Reise war anstrengend gewesen. Akio und Kazuo waren nicht mehr die Jüngsten und ihren Auftritten als Schauspieler hatte ein gewisses Feuer gefehlt. Ihre Lieder waren altmodisch und längst nicht mehr beliebt. Unterwegs hatte man sie mürrisch aufgenommen, in einem Dorf sogar feindselig. Niemand hatte sie beherbergen wollen und sie hatten die Nächte durchmarschieren müssen.
Nun musterte Hisao unauffällig seinen Vater und ihm wurde bewusst, wie alt dieser war. Als unangefochtenes Oberhaupt der Kikutafamilie besaà Akio im verborgenen Dorf eine fast selbstverständliche Macht und wurde von allen gefürchtet und geachtet. Hier jedoch, inseinen alten, ausgeblichenen Kleidern, wirkte er wie ein
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