Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
weitergegeben haben.«
»Zeig es mir.«
»Lieber nicht«, sagte sie.
»Zeig mir diesen Katzengeist, wenn es ihn überhaupt gibt.« Er klang skeptisch und verächtlich. In Maya stieg Wut hoch. Sie durchschoss ihren Körper, unvermittelt und nicht ganz menschlich. Maya entspannte und dehnte Arme und Beine, lieà ein Beben durch ihr Fell gehen. Sie legte die Ohren an und zeigte die Zähne, war sprungbereit.
»Das reicht«, sagte Taku leise und berührte sie flüchtig an der Wange. Das Tier-Ich schnurrte und verschwand.
»Sie haben mir nicht geglaubt«, sagte Maya tonlos. Sie zitterte.
»Wenn ich das nicht getan habe, tue ich es jetzt«, erwiderte er. »Höchst interessant. Und nützlich, schätze ich. Die Frage ist: Wie setzen wir es am besten ein? Hast du die Gestalt der Katze je ganz angenommen?«
»Einmal«, gestand sie. »Ich bin Sunaomi zu Akanes Schrein gefolgt und habe zugeschaut, wie er sich eingepinkelt hat!«
Taku meinte, aus ihrer Prahlerei einen Unterton heraushören zu können. »Und?«, fragte er.
Maya schwieg eine Weile. Dann murmelte sie: »Ich will das nicht noch einmal tun! Ich mag das Gefühl nicht.«
»Ob du es magst oder nicht, tut nichts zur Sache«, sagte er. »Verschwende nicht meine Zeit. Du musst mir versprechen, immer zu tun, was Sada oder ich dir sagen, niemals allein zu verschwinden, kein Risiko einzugehen und keine Geheimnisse vor uns zu haben.«
»Ich schwöre es.«
»Im Moment passt mir das gar nicht«, sagte Taku verärgert zu Sada. »Ich versuche, Kono zu kontrollieren und meinen Bruder für den Fall im Auge zu behalten, dass er etwas Unerwartetes tut. Aber da Takeo darum gebeten hat, behalte ich Maya in meiner Nähe. Ihr könnt morgen mit mir ins Schloss kommen. Verkleide sie als Junge, wenn sie das Haus verlässt. Du kannst sein, wer du willst, Sada, aber hier im Haus muss Maya als Mädchen leben. Die meisten Mitglieder des Haushalts wissen schon, wer sie ist, und als Tochter Lord Otoris musssie so gut wie möglich beschützt werden. Ich werde Hiroshi warnen. Könnte dich noch jemand erkennen?«
»Mich schaut niemand direkt an«, erwiderte Maya, »denn ich bin ein Zwilling.«
»Zwillinge gelten im Stamm als etwas Besonderes«, sagte er. »Aber wo steckt deine Schwester?«
»Sie ist in Hagi geblieben. Sie reist bald nach Kagemura.« Maya verspürte eine plötzliche Sehnsucht nach Miki, nach Shigeko und ihren Eltern. Hier bin ich wie ein Waisenkind , dachte sie, oder wie im Exil. Vielleicht bin ich am Ende wie Vater und werde in einem abgelegenen Dorf als jemand entdeckt, die begabter ist alle anderen Angehörigen des Stammes .
»Geh jetzt zu Bett«, befahl Taku ihr unvermittelt. »Ich muss noch ein paar Dinge mit Sada besprechen.«
»Meister.« Maya verneigte sich gehorsam vor ihm und wünschte den beiden eine gute Nacht. Sie hatte kaum das Haus betreten, da kam schon eine der Mägde auf sie zu und schickte sie los, die Betten zu bereiten. Sie faltete die Matten auseinander und breitete die Steppdecken aus, lief leise durch die langen, niedrigen Zimmer des Hauses. DrauÃen hatte es aufgefrischt und der herbstliche Wind pfiff durch alle Ritzen, doch Maya spürte die Kälte nicht. Sie lauschte die ganze Zeit auf die gedämpften Stimmen im Garten. Sie hatten ihr befohlen, zu Bett zu gehen, und sie hatte gehorcht, aber das Lauschen hatten sie ihr nicht verboten.
Sie hatte das scharfe Gehör ihres Vaters geerbt und im Laufe des Jahres war es immer feiner und sensiblergeworden. Als sie sich schlieÃlich hinlegte, spitzte sie die Ohren und versuchte, das Geflüster der neben ihr liegenden Mädchen auszufiltern. Allmählich verstummten sie, und ihre leisen Stimmen wurden vom Gebrumm der letzten Insekten des Sommers ersetzt, die die bevorstehende Kälte und ihren nahen Tod beklagten. Maya hörte den gedämpften, fedrigen Flügelschlag einer durch den Garten gleitenden Eule und sie atmete fast geräuschlos aus. Das Mondlicht warf ein Streifenmuster auf die Wandschirme. Der Mond zerrte an Mayas Blut, lieà es durch ihre Adern rasen.
In der Ferne sagte Taku: »Ich habe Kono hierhergebracht, damit er begreift, dass Maruyama den Otori die Treue hält. Ich fürchte, Zenko hat ihm weisgemacht, dass die Seishuu kurz vor einem neuerlichen Abfall stehen und der Westen nicht zu Takeo halten
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