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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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schönen, ruhigen Wetter des Spätherbstes.

KAPITEL 23

    Maya reiste nicht als Tochter Lord Otoris, sondern in ihrer anderen Rolle und nach Art des Stammes verkleidet. Sie war die jüngere Schwester Sadas und sie waren unterwegs nach Maruyama, um dort Verwandte zu besuchen und nach dem Tod ihrer Eltern Arbeit zu finden. Maya gefiel die Rolle des Waisenkindes, und die Vorstellung, ihre Eltern wären tot, befriedigte sie, weil sie immer noch wütend auf sie war, besonders auf ihre Mutter, deren Vorliebe für Sunaomi sie tief verletzt hatte. Maya hatte gesehen, wie Sunaomi beim Anblick dessen, was er für ein Gespenst gehalten hatte, wieder zum wimmernden Kleinkind geworden war, obwohl es sich in Wahrheit um die unvollendete Statue der großen Gnädigen Kannon gehandelt hatte. Und sie verachtete ihn umso mehr für seine Angst, weil diese nichts im Vergleich mit dem gewesen war, was sie in ebenjener sternenlosen Nacht erblickt hatte, der dritten Nacht des Totenfestes.
    Sunaomi mit Hilfe der gewöhnlichen Stammesfähigkeiten zu folgen, war ein Kinderspiel gewesen, doch als Maya den Strand erreichte, hatte sie irgendetwas an der Nacht, an den schwelenden Feuern und an der intensiven Trauer des Festes tief berührt, und in ihrem Inneren sprach die Katze und sagte: »Schau, was ich sehen kann!«
    Anfangs glich es einem Spiel: Das Dunkel hellte sich auf und ihre großen Pupillen nahmen jede Bewegung wahr, das Umherhuschen kleiner Geschöpfe und nächtlicher Insekten, das Beben des Laubes, die vom Wind versprühten Gischttropfen. Dann wurde ihr Körper weich und elastisch, nahm die Gestalt der Katze an und ihr wurde bewusst, dass der Strand und das Kieferngehölz von Geistern wimmelten.
    Sie sah sie durch die Augen der Katze, ihre Gesichter waren grau, ihre Gewänder weiß, ihre bleichen Glieder schwebten über dem Erdboden. Die Toten wandten ihr den Blick zu und sie waren der Katze vertraut, die ihre bittere Reue, ihren nicht enden wollenden Groll, all ihre unerfüllten Sehnsüchte kannte.
    Maya schrie erschrocken auf – die Katze miaute kläglich. Sie rang darum, wieder Menschengestalt anzunehmen. Die Krallen der Katze kratzten über die schwarzen Steine, die den Strand säumten, sie sprang in die Bäume, die das Haus umgaben. Die Geister folgten ihr, umringten sie dicht, ihre Berührung fühlte sich eisig an auf ihrem Fell. Ihre Stimmen, begierig und sorgenvoll, glichen im Herbstwind rauschenden Blättern.
    Â»Wo ist unser Herr? Bring uns zu ihm. Wir warten auf ihn.«
    Obwohl sie diese Worte nicht verstand, erfüllten sie sie mit ebenso großem Schrecken wie einer jener rätselhaften Sätze, die den Schlafenden in einem Albtraum vor Angst bis ins Mark erstarren lassen. Sie hörte das Knacken eines brechenden Zweiges und sah einen Mann, der eine Lampe hielt, aus dem halb abgerissenen Haus treten. DieGeister wichen vor dem Licht zurück und ihre Katzenpupillen verengten sich, so dass sie die Toten nicht mehr deutlich erkennen konnte. Doch sie hörte, wie Sunaomi schrie, und sie hörte das Tröpfeln, als er sich einpinkelte. Ihre Verachtung für seine Angst half ihr, die ihre in den Griff zu bekommen, sie suchte Zuflucht in den Büschen und kehrte schließlich ungesehen zum Schloss zurück. Sie wusste nicht mehr, wann genau sie von der Katze wieder zu Maya geworden war, und genauso wenig wusste sie, wie es zur Verwandlung in die Katze gekommen war. Aber die Erinnerung an die Geistervision der Katze und an die hohlen Stimmen der Toten konnte sie nicht abschütteln.
    Wo ist unser Herr?
    Sie hatte große Angst davor, all dies noch einmal zu sehen und zu hören, und sie versuchte, sich dagegen zu wappnen, dass die Katze erneut Besitz von ihr ergriff. Sie hatte nicht nur viele Fähigkeiten der Kikuta geerbt, sondern auch etwas von deren Unerschütterlichkeit. Doch die Katze suchte sie in ihren Träumen heim, fordernd, erschreckend und verlockend.
    Â»Du eignest dich hervorragend zur Spionin!«, rief Sada nach der ersten Nacht an Bord des Schiffes, als Maya vom Tratsch erzählte, den sie tags zuvor mitbekommen hatte. Nichts Finsteres oder Bedrohliches, sondern einfach die Geheimnisse einzelner Menschen, die diese gern vor der Welt verborgen hätten.
    Â»Lieber wäre ich eine Spionin, als mit irgendeinem Lord verheiratet zu sein«, erwiderte Maya. »Ich möchte wie du sein oder so, wie Shizuka früher

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