Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Leben Mai!«
»Nein, nicht Mai, sondern Maya. Lass uns ein. Ich erkläre dir alles später. Ist Taku in Maruyama?«, fügte sie hinzu, als das Tor aufgesperrt worden war und sie hindurchschlüpften.
»Ja, er ist vor ein paar Tagen eingetroffen. Mit groÃer Pracht und in hochherrschaftlicher Begleitung. Er hat Lord Kono aus Miyako dabei und die beiden sind bei Lord Sugita zu Gast. Er ist nicht wie üblich vorbeigekommen. Wir teilen ihm mit, dass du mit deiner Schwester hier bist.«
»Wissen sie, wer ich bin?«, flüsterte Maya, als sie von Sada durch den dunklen Garten zum Hauseingang geführt wurde.
»Ja. Aber sie wissen auch, dass sie das nichts angeht, und deshalb werden sie den Mund halten.«
Maya stellte sich vor, wie es wäre, sich als Mann â vielleicht auch als Frau â, als Soldat, Wachtposten oder Diener zu verkleiden. So könnten sie sich Taku ganz selbstverständlich nähern, irgendeine Bemerkung über ein Pferd oder eine Mahlzeit machen und einen scheinbar unverfänglichen Satz anschlieÃen, durch den Taku Bescheid wüsste â¦
»Wie werden sie mich nennen?«, fragte sie Sada, als sie leichten Schrittes auf die Veranda trat.
»Dich nennen? Wer?«
»Wie lautet mein geheimer Name, den nur der Stamm kennt?«
Sada lachte fast lautlos. »Man wird sich einen ausdenken. Vielleicht âºdas Kätzchenâ¹.« Heute Abend ist das Kätzchen wiedergekommen . Maya bildete sich ein, wie die Dienerin â sie hatte beschlossen, dass es eine Frau sein sollte â diese Worte Taku ins Ohr flüsterte, als sie sich bückte, um ihm die FüÃe zu waschen oder ihm Wein einzuschenken, und dann ⦠was täte Taku dann?
Sie verspürte ein leises Unbehagen, denn egal, wie es sein würde, einfach würde es auf keinen Fall.
Sie musste zwei Tage warten. Allerdings hatte sie keine Zeit, sich zu langweilen oder Ãngste zu entwickeln, denn Sada hielt sie zum Training an, das nie ein Ende nahm, weil man die Stammesfähigkeiten immerweiter verbessern konnte. Niemand, nicht einmal Muto Kenji oder Kikuta Kotaro, hatte sie je vollständig beherrscht. Und Maya war noch ein Kind. Vor ihr lagen viele Jahre der Ãbung: lange reglos dastehen, sich strecken und beugen, damit die GliedmaÃen geschmeidig blieben, Gedächtnis, Beobachtungsgabe und jenes Tempo der Bewegungen trainieren, durch das man sich unsichtbar machen und das zweite Ich wachrufen konnte. Maya unterwarf sich klaglos dieser Disziplin, denn sie hatte beschlossen, Sada ohne jede Einschränkung zu lieben, und sie wollte ihr gefallen.
Am Ende des zweiten Tages, nachdem es dunkel geworden war und sie mit Essen fertig waren, winkte Sada Maya, die gerade die Schalen einsammelte und auf Tabletts stellte â denn hier war sie nicht mehr die Tochter Lord Otoris, sondern das jüngste Mädchen im Haushalt und daher die Dienerin aller. Sie beendete ihre Arbeit, brachte die Tabletts in die Küche und trat dann auf die Veranda. Am anderen Ende stand Sada mit einer Lampe. Maya erkannte Takus Gesicht, das halb im Licht, halb im Dunkel lag.
Sie ging zu ihm und fiel auf die Knie, warf aber vorher noch einen forschenden Blick auf sein Gesicht. Er sah müde aus, seine Miene wirkte angestrengt, ja sogar verärgert. Ihr sank das Herz.
»Meister«, flüsterte sie.
Er runzelte die Stirn noch mehr und bedeutete Sada, mit der Lampe näher zu kommen. Maya spürte die Hitze an ihrer Wange und schloss kurz die Augen. Die Flamme zuckte hinter ihren Lidern.
»Schau mich an«, sagte Taku.
Seine Augen, schwarz und undurchdringlich, blickten direkt in die ihren. Sie hielt seinem Blick stand, ohne zu blinzeln, und leerte ihren Geist, damit nichts an die Oberfläche drang, das ihm ihre Schwächen enthüllte, wagte aber auch nicht, nach seinen Schwächen zu forschen. Doch sie konnte sich nicht ganz vor ihm verhüllen und hatte das Gefühl, als hätte sie ein Lichtstrahl oder ein Gedankenstrahl durchdrungen und ein Geheimnis erblickt, von dem sie selbst nichts geahnt hatte.
»Hmm«, brummte Taku, doch Maya wusste nicht, ob darin Zustimmung oder Missfallen zum Ausdruck kam. »Warum hat dein Vater dich zu mir geschickt?«
»Er glaubt, ich wäre vom Geist einer Katze besessen«, sagte sie leise. »Er war der Meinung, Kenji könnte einen Teil dessen, was der Stamm über diese Dinge weiÃ, an Sie
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