Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
den Hang hinunter, wo etwas abseits eine Gruppe kleinerer Gebäude für Besucherinnen bestimmt war. Die anderen Gästezimmer lagen etwas höher am Hügel rund um die heiÃen Quellen, und dahinter unter den riesigen Zedern ruhten die Otorilords und ihre Gefolgsleute seit Jahrhunderten unter moosbedeckten Grabsteinen und Laternen. Tauben gurrten auf den Dächern und die Spatzen zwitscherten auf den Vorsprüngen. Aus dem Wald dahinter kamen die schrillen Herbstschreie der Milane. Eine Glocke läutete tief im Tempel.
»Die Nacht wird heute kalt«, bemerkte Lady Maruyama.
»Bleiben Sie hier?«
»Nein, ich werde im Gasthof am Fuà des Berges bleiben und morgen nach Maruyama zurückkehren. Sie verbringen hier einige Tage?«
»Höchstens zwei. Ich muss mich vergewissern, dass mein Bruder sich einlebt, und es gibt mehrere Fragen, bei denen ich Matsudas Rat brauche. Dann habe ich einiges in Yamagata zu erledigen â um diese Zeit im Jahr wird das Land dort verwaltet. Aber vor der Sonnenwende, vor dem Schnee werde ich wieder in Hagi sein.«
Sie hatten die Veranda des Hauses für weibliche Gäste erreicht und traten aus ihren Schuhen auf die Bretter. Eine Frau, die ein paar Jahre älter war als Naomi, kam heraus und begrüÃte sie.
»Das ist meine Begleiterin, Sugita Sachie«, sagte Lady Maruyama.
»Bitte treten Sie ein, Lord Otori. Es ist eine sehr groÃe Ehre.«
Als sie Platz genommen hatten, brachte Sachie Teeutensilien und heiÃes Wasser, und Lady Maruyama bereitete den Tee mit präzisen und eleganten Bewegungen. Der Tee war bitter und schäumte. Nachdem sie getrunken hatten, sagte Lady Maruyama: »Ich glaube, Sie kennen Sachies ältere Schwester. Sie ist mit Otori Eijiro verheiratet.«
Shigeru lächelte. »Ich hoffe, meine Heimreise bei ihnen zu unterbrechen. Es wird mir eine Freude sein, deiner Schwester von diesem Treffen zu berichten. Ich bewundere deinen Schwager sehr.«
»Sachie schreibt ihrer Schwester sehr oft«, sagte Lady Maruyama. »Sie können von Zeit zu Zeit Nachrichten von ihr erwarten.«
»Darauf freue ich mich«, antwortete Shigeru. Diese Verwandtschaft beruhigte ihn. Sie unterhielten sich über Eijiros Familie und dann über Malerei und Dichtung. Naomis Bildung schien so breit gefächert zu sein wie seine und sie konnte offensichtlich die Männersprache lesen. Dann wurde das Gespräch persönlicher â er vertraute ihr seine Sorge um das Wohlergehen der Menschen an, seinen Wunsch nach Gerechtigkeit.
»Zu unserer jüngsten Auseinandersetzung mit den Tohan im Osten kam es, weil sie über die Grenze drangen und unsere Leute folterten und töteten.«
Er dachte an die Frau aus Chigawa, die ihm erzählt hatte, dass viele von ihrer Sekte, den Verborgenen, in Maruyama Zuflucht suchten. SchlieÃlich war auch Nesutoro, der Mann, den er gerettet hatte, mit Shigerus Schutzbriefen auf dem Weg dorthin.
»Wir haben davon gehört.« Lady Maruyama tauschte einen raschen Blick mit Sachie. »Auch weil die Tohan die Verborgenen verfolgen, werde ich nie zulassen, dass sie Maruyama in ihre Gewalt bringen. Ich spreche davon nicht offen und ich vertraue darauf, dass Sie es nicht weitersagen, aber diese Menschen stehen unter meinem Schutz.«
»Ich weià sehr wenig von ihnen«, entgegnete er und wünschte fast, sie mehr, direkter befragen zu können.»Aber ich finde Folter abscheulich. Es ist barbarisch und unserer Klasse nicht würdig, wenn Menschen durch Misshandlungen gezwungen werden, einen tiefen Glauben zu verleugnen.«
»Dann haben wir einen weiteren Grund, uns gegen Iida zu verbünden«, sagte sie.
Er stand auf und verabschiedete sich. Sie blieb sitzen, verneigte sich aber bis auf den Boden, so dass ihr Haar sich leicht teilte und ihren Nacken freigab. Er war überrascht und ziemlich beschämt über seinen heftigen Wunsch, die Hände unter die seidige Masse zu schieben und die Form ihres Kopfes in den Handflächen zu fühlen.
KAPITEL 26Â
Zwei Tage später sagte Shigeru seinem Bruder Lebewohl und machte sich auf die Rückreise nach Hagi. Das Wetter schlug um und wurde regnerisch. Der Niederschlag war kalt, der Ostwind hatte eine frostige Schärfe und erinnerte ihn an den kommenden Winterschnee. Kiyoshige wartete mit den Pferden am Fuà des Berges, bei ihm waren Otori Danjo und Harada, die Boten, die er ausgeschickt hatte,
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