Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
ab.
Haruna war zu Akane gegangen, sobald sie die ersten Nachrichten von der verlorenen Schlacht bekam. Akane verbrachte diesen und den nächsten Tag zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
»Er ist nur vermisst!«, sagte sie immer wieder zu Haruna, die bei ihr saÃ, ihr die Hand hielt, ihr Haar kämmte, ihr Nacken und Schläfen massierte und sie zum Essen und Trinken ermunterte, alles, um sie davon abzuhalten, in die tiefe Grube hoffnungslosen Kummers zu stürzen. »Niemand hat ihn sterben sehen!«
Haruna sagte nicht, was ihr auf der Zunge lag: dass die möglichen Zeugen von Shigerus Tod selbst tot waren. Mori Kiyoshige zum Beispiel, der von Männern seines eigenen Clans ermordet worden war â der Name Noguchi war bereits gleichbedeutend mit Verräter geworden. Haruna weinte um den jungen Mann, der so voll ungestümer Lebenskraft gewesen war, und um alle anderen.
Akane badete und zog sich immer wieder um, wobei sie wiederholte: »Er wird meine Liebe brauchen, wenn er zurückkommt. Ich muss schön für ihn sein, er wird meinen Trost brauchen wie nie zuvor.« Doch bis zum Abend des dritten Tages versank sie in Verzweiflung, obwohl sie immer noch nicht den Tränen nachgab. Gleich nach Sonnenuntergang hörte sie Pferdegetrappel in der StraÃe vor ihrem Haus und die Hoffnung kehrte wie ein körperlicher Schmerz zurück. Sie schob die Dienerinnen zur Seite und lief zum Vordereingang. Geschirr klirrte, die Pferde stampften und schnaubten. Männer betraten den Garten, der Otorireiher war auf ihren Gewändern deutlich zu erkennen. Sie glaubte vor Freudeohnmächtig zu werden â doch es war nicht Shigeru, der den Männern in den Garten folgte.
»Lord Masahiro?«, sagte sie mit ersterbender Stimme.
»Kann ich hereinkommen?« Er blieb einen Moment stehen, während einer der Männer niederkniete und ihm die Sandalen auszog, dann trat er ins Haus.
»Wer ist bei dir?«, fragte er.
»Niemand â nur Haruna.«
»Sag ihr, sie soll gehen. Ich will mit dir allein sprechen.«
Sein Verhalten hatte sich verändert und es alarmierte sie â er schmeichelte nicht mehr, er wirkte unverhüllt einschüchternd.
Sie versuchte, ihm standzuhalten. »Ich kann Sie jetzt nicht empfangen. Ich bedaure zutiefst â ich muss Sie bitten zu gehen.«
»Was hast du vor, Akane? Mich hinauszuwerfen?«
Er trat dicht an sie heran, wobei er ein wenig schwankte. Sie wich zurück, ihr Körper fühlte bereits seine Hände und schauderte. Masahiro lachte und rief ins Innere des Hauses: »Haruna! Ich will dein Gesicht hier nicht sehen. Mach dich dünn, bevor ich hereinkomme.« Er nickte den Dienerinnen zu, die nervös im Schatten warteten. »Bringt Wein!« Er schritt in den Hauptraum.
Seine Männer standen am Vordereingang. Akane konnte nichts tun als ihm folgen. Er setzte sich und schaute hinaus in den Garten. Die Sommerluft war feucht und weich, sie roch nach dem Meer und den Gezeiten, doch Akanes Mund war trocken und sie fühlte sich ausgedörrt, als bekäme sie Fieber.
Eines der Mädchen kam mit Wein und Schalen herein, stellte sie auf den Boden und schenkte Wein für beide ein. Masahiro winkte sie weg; sie sah Akane ängstlich an, zog sich zur Hintertür zurück und schob sie hinter sich zu. Masahiro trank in tiefen Zügen.
»Ich komme, um dir mein Beileid auszusprechen.« Die Worte waren angemessen, doch er konnte seinen Triumph nicht verhehlen.
Akane flüsterte: »Ist Lord Shigeru tot?«
Er war der Letzte, von dem sie diese Nachricht hören wollte; das verstärkte das unerträgliche Leid nur noch.
»Entweder tot oder gefangen. Um seinetwillen müssen wir das Erstere hoffen.«
Ihn nie mehr sehen, nie mehr seinen Körper an ihrem fühlen â der Schmerz stieg in einer Welle aus ihrem Bauch auf und überwältigte sie. Bisher hatte sie geglaubt, Schmerz über den Tod ihres Vaters empfunden zu haben. Jetzt wusste sie, dass das nichts gewesen war im Vergleich zu dieser Pein, damals eine Träne und jetzt das ganze Meer. Töne kamen aus ihrem Mund, die sie nicht erkannte: ein tiefes Stöhnen wie die Winterflut an einem steinigen Strand, gefolgt von einem scharfen Schrei wie dem der Möwe.
Sie fiel nach vorn und spürte kaum die Matte unter ihrem Gesicht, mit den Händen zerrte sie daran, dann riss sie an ihren Haaren.
Masahiro beugte sich vor,
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