Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
er weiterreiste.
Die Frau, deren Namen er nie erfuhr â Kenji redete sie vertraut als Ȋltere Schwester« an, aber das sagte er zu jeder Frau, die so alt wie er oder ein bisschen älter war â, verbrachte den Tag mit verschiedenen Haushaltspflichten, ihre Hände ruhten nie. In der Trägheit, in der das Fieber ihn zurückgelassen hatte, beobachtete Shigeru sie und war fasziniert von ihrem geschäftigen, genügsamen Leben. Sie erzählte ihm ein wenig über die Organisation des Dorfs. Es bestand aus drei Familien, die anders als die niedrigen Landarbeiter alle Familiennamen hatten: Kuroda, Imai und Muto. Die meisten Entscheidungen wurden gemeinsam getroffen, doch der Anführer kam immer aus der Familie Muto â ein Verwandter von Kenji. Im Osten wären es die Kikuta, sagte sie, doch im Mittleren Land waren die Muto die führende Familie.
Kikuta: Der Name war Shigeru vertraut. Bestimmthatte sein Vater gesagt, die Frau, die ihn bezaubert â oder behext â hatte, sei eine Kikuta gewesen. Jetzt erinnerte er sich deutlich an das Gespräch, an all das Leid und die Enttäuschungen im Leben seines Vaters.
»Und wenn der Anführer stirbt, ohne erwachsene Söhne zu hinterlassen, übernimmt seine Frau oder seine Tochter sein Amt«, setzte sie hinzu. »Ich kann offen mit Ihnen reden, obwohl Sie nicht einer von uns sind. Aber Sie sind ein alter Freund von Kenji.«
»Alte Freunde kann man uns kaum nennen. Hat er das gesagt?«
»Nicht wörtlich, ich habe es nur angenommen. Weil er Sie so ansieht. Sonst ist er nicht besonders fürsorglich, das können Sie mir glauben. Er hat mich überrascht. Er weià viel über Pflanzen und Kräuter, aber er gebraucht sie nicht oft zum Heilen, wenn Sie wissen, was ich meine.« Shigeru schaute sie verblüfft an und sie lachte. »Zwischen Ihnen muss es eine Verbindung aus einem früheren Leben geben.«
Das war keine sehr befriedigende Erklärung, doch eine andere schien es nicht zu geben. Er wollte vor der Frau nicht zu viel reden â oder überhaupt in dem Dorf. Sie sollten seine Identität nicht kennen und er fürchtete, dass einige von ihnen die übernatürlichen Fähigkeiten besaÃen, von denen er gehört und die er bei Muto Kenji schon beobachtet hatte. Als sie nach einer Woche weiterzogen, hatten sie mehr Gelegenheit zum Reden.
In der Nacht davor gab Shigeru der Frau die Kleider, die er in der Schlacht getragen hatte, und sie versprach, sie zu waschen, zu flicken und dem Schrein zu opfern. Dafür gab sie ihm ein altes, unauffälliges, mit Indigo gefärbtes Gewand und Kenji zog ein ähnliches an. Kenji umwickelte die Griffe beider Schwerter mit dunklen Haihautstreifen und verhüllte so die Dekoration. Die Frau versorgte sie auch mit neuen Strohsandalen und Binsenhüten, die sie im Winter geflochten hatte. Shigerus Hut verbarg die halb verheilte Wunde, die sich seitlich über den Kopf zog.
»Jetzt seht ihr wie Brüder aus«, sagte sie befriedigt.
In den kommenden Jahren reiste Shigeru häufig durch diese Gegend, immer wieder durchquerte er die Drei Länder auf kaum benutzten Pfaden über die bewaldeten Berge und verbarg dabei seine eigene Kraft und die seines Schwerts. Doch jetzt machte er zum ersten Mal als scheinbar einfacher Wanderer mit wenigen Ansprüchen und geringen Erwartungen eine solche Reise, auf der er als Clanerbe der Otori nicht zu erkennen war. Erinnerungen an die Toten belasteten ihn, aber der Tag war schön, die Luft klar, die südliche Brise leicht und lau. Glockenfrösche und Laubfrösche quakten entlang des Bachs und gegen Mittag war der Wald von der durchdringenden Musik früher Zikaden erfüllt. Wicken, Gänseblümchen und wilde Orchideen schmückten das Gras und Insekten umsummten die Lindenblüten.
Shigeru und Kenji mieden die HauptstraÃe, sie folgten einem Pfad, der über die Bergketten führte. Die Steigungen waren steil, die Aussichten oben am Pass von vollendeter Schönheit. Im Norden hinter der weià gesäumten Küstenlinie streckte sich das Meer bis weit in die Ferne mit Fischerbooten wie winzige Flecken auf seiner Oberfläche und grünen Inseln, die aufragten wie Berge, gefangen in einer groÃen blauen Flut.
Die erste Nacht verbrachten sie in einem abgelegenen Bauernhaus am Fuà des Berges. Der Bauer, seine Söhne und deren Familien kannten Kenji. Sie
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