Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Ichiro.
Shigeru ordnete an, dass ihn der stattlichste Zug zum Schloss begleitete, der unter den Umständen möglich war. Die Wachtposten holten zu ihrer Unterstützung rasch alte Männer und Jungen zusammen. Zu Shigerus Ãberraschung waren auch Miyoshi Kahei und sein jüngerer Bruder Gemba dabei, Gemba war erst sechs.
»Ich freue mich sehr, dass du am Leben bist«, sagte Shigeru zu Kahei.
»Noch mehr freuen wir uns, Lord Shigeru zu sehen«, antwortete der Junge. Was er vom Krieg gesehen hatte, war so grässlich gewesen, dass es ihm seine frühere Kindlichkeit und Fröhlichkeit geraubt hatte. »Kiyoshiges Tod war schrecklich«, fügte er leise hinzu, seine Augen glänzten von zurückgehaltenen Tränen. »Er muss gerächt werden.«
»Das wird geschehen«, erwiderte Shigeru ebenso leise. »Was hörst du von deinem Vater?«
»Er hat auch überlebt. Jetzt ist er im Schloss. Er hat meinen Bruder und mich zu Ihrer Begleitung hergeschickt, damit sichert er Ihnen seine Unterstützung in den kommenden Monaten zu. Viele unserer Männer sind gefallen, aber sie haben Söhne, so alt wie ich oder Gemba. Wir werden Ihre künftige Armee sein.«
»Ich bin ihm dankbar und dir auch.«
»So fühlt die ganze Stadt, das ganze Land«, rief Kahei. »Solange Lord Shigeru lebt, lebt der ganze Clan!«
Shigeru lieà sich eine neue Scheide für Jato bringen, entfernte die schwarze Haifischhaut vom Griff und säuberte und polierte das Schwert sorgsam. Er zog förmliche Gewänder in gedämpften Farben an, die mit dem Otoriwappen bestickt waren, und setzte einen kleinen schwarzen Hut auf. Chiyo zupfte ihm den nachgewachsenen Bart und frisierte ihm das Haar. Kurz vor Mittag brach er zum Schloss auf. Er ritt eins der Moripferde, ein graues mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif, das ihn an Kiyoshiges toten Hengst erinnerte. Seine Mutter begleitete ihn in einer Sänfte.
Das Haus der Mutter lag in einiger Entfernung von der Stadtmitte und war von anderen kleinen Gütern mit weiÃen Ziegelmauern und Gärten voller Bäume umgeben. Kanäle mit trägen Fischen flossen die StraÃen entlang und die Luft war vom Strömen und Rauschen des Wassers erfüllt. In den Gärten blühten Azaleenbüsche wie rote Flammen und die Kanalufer waren mit Iris gesäumt.
Aus der Ferne waren andere, zuerst nicht erkennbare Geräusche zu hören, dann unterschieden sie sich als Trommel- und Gongschläge, als Rufen, Singen und Klatschen von Menschen. In die StraÃen strömten immer mehr Leute in hellen Kleidern und merkwürdig geformten Hüten, mit gelben oder roten Tüchern. Sie tanzten, als wären sie toll oder von Geistern besessen. Beim Anblick von Shigerus Zug sangen und tanzten sie noch rasender. Die Menschenmenge teilte sich, als er zwischen sie ritt, doch ihre Erregung überrollte und erfüllte ihn, bis er sich nicht mehr wie ein Mensch, ein Mann vorkam, sondern wie die Verkörperung von etwas Ãlterem und Unzerstörbarem.
Das darf niemals vergehen, dachte er. Ich muss leben. Ich muss einen Sohn haben. Wenn meine Frau ihn mir nicht schenkt, werde ich Kinder mit Akane haben. Ich werde ihre Kinder anerkennen und adoptieren. Niemand kann mich daran hindern, jetzt meine eigenen Entscheidungen zu fällen. An beide Frauen hatte er seit Tagen kaum gedacht. Jetzt überkam ihn die Sehnsucht nach Akane. Er schaute zu dem Haus hinter den Kiefern und erwartete halb, einen Blick auf sie werfen zu können, doch das Tor war verschlossen, das Haus wirkte verlassen. Sobald die Dinge im Schloss geklärt waren, würde er ihr eine Botschaft schicken. Noch in dieser Nacht würde er zu ihr gehen. Und er musste so bald wie möglich mit Moe reden und herausfinden, was mit ihrem Vater und ihren Brüdern geschehen war. Er fürchtete, dass sie tot waren, weil die Yanagi dem ersten wuchtigen Ansturm der Tohan ausgesetzt gewesen waren und zugleich auf ihrer rechten Flanke von ihren angeblichen Verbündeten, den Noguchi, angegriffen worden waren.
Endo Chikara und Miyoshi Satoru begrüÃten Shigeru vor dem Schloss, hieÃen ihn zu Hause willkommen und bekundeten ihr Beileid zum Tod seines Vaters. Im Gegensatz zu der Raserei in der Stadt war ihre Stimmung ernst. Niemand konnte so tun, als stünden die Otori nicht vor der vollkommenen Katastrophe. Sie ritten zusammen über die Holzbrücke. Im ersten Schlosshof
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