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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Naomi, als er den Brief aus der Kiste nahm und ihn entrollte. Die Schrift der Witwe war kräftig und kühn, die Sprache zurückhaltend. In beidem erkannte er ihre Tapferkeit und ihr Leid. In der Rolle lagnoch ein kleineres Stück Papier. Die Schrift war anders – fließender und anmutiger –, sie gehörte weder Eijiro noch seiner Frau und das Papier enthielt weder einen Brief noch einen Bericht über die Landwirtschaft.
    An diesem Abend im neunten Monat schien der Vollmond, alle Wandschirme waren weit geöffnet und ließen den Garten sehen, der in Licht badete. Kein Wind wehte, alle Blätter hingen reglos, die Schatten waren schwarz und lang. Im nächsten Busch webte eine Kugelspinne ein Netz, golden und silbern leuchtete es im Mondlicht. Shigeru las:
    Wie junge Farntriebe
Bogen sich meines Kindes Finger.
Ich rechnete nicht
Im achten Monat mit Frost.
    War das eine Botschaft für ihn oder lag das Papier aus Versehen in der Rolle? Lady Maruyama hatte gesagt, sie würde ihm auf diesem Weg schreiben. Sie schrieb weder von Bündnissen noch von Intrigen, sie nannte ihn noch nicht einmal beim Namen. Nichts konnte ihn bei einer misstrauischen Prüfung damit in Verbindung bringen. Sie schrieb von der Trauer um ein verlorenes Kind, doch das Bild, das sie benutzte, durchbohrte ihn wie ein plötzlicher Schnitt in sein Herz. Sie musste von seinem Verlust erfahren haben. Sie hatte auf die gleiche Art gelitten: Er trauerte um Frau und Tochter, sie um Ehemann und Sohn. Sie hätte anders schreiben können, Worte der Anteilnahme, Versprechen von Unterstützung, doch diese kurzen Zeilen ließen ihn mehr als alles glauben,dass er ihr vertrauen konnte und dass sie Teil des Musters seiner Zukunft sein werde. Er dachte an das Go-Spiel: Ein Spieler mochte völlig umzingelt erscheinen, machtlos und besiegt, doch ein unerwarteter Zug konnte den enger werdenden Ring brechen und die Situation umkehren. Ein solcher Zug hatte sich ihm plötzlich gezeigt. Zum ersten Mal nach der Schlacht war seine geduldige Beharrlichkeit, so zäh und grau, mit einem schwachen Anflug von Hoffnung überzogen.
    Er faltete das Gedicht und schob es in sein Gewand, dann wandte er sich Eijiros letzten Aufzeichnungen zu und staunte, wie die energische, intelligente Stimme immer noch zu ihm sprach. Eijiro hatte mit verschiedenen Sorten Sesamsaat experimentiert, die für Öl zum Kochen und Beleuchten verwendet wurden. Shigeru vertiefte sich bald in das Thema und fand, er könne einiges davon auf seinen eigenen Feldern erproben. Er würde Eijiros Witwe schreiben, damit Samen zurückbehalten und ihm geschickt wurden, bevor sie in den Westen zog, und er würde einige Felder für eine Aussaat im Frühling reservieren und dafür sorgen, dass bei Bewässerung und Düngung Eijiros Ratschläge befolgt wurden. Immer wenn ich eine Öllampe anzünde, werde ich an ihn denken – ein passenderes Denkmal könnte es für ihn nicht geben.
    Am nächsten Tag kam Takeshi zu ihm und entschuldigte sich.
    Â»Kahei hat mir gesagt, ich solle das tun«, erklärte er verlegen. »Er hat mir erklärt, wie sehr ich im Unrecht war.«
    Â»Er ist dir ein guter Freund«, entgegnete Shigeru und erzählte seinem Bruder von dem Vorschlag, den Kaheis Vater gemacht hatte. »Gehen wir ein wenig draußen spazieren.« Sobald sie im Garten und außer Hörweite von anderen waren, erklärte Shigeru nochmals seine dauernde Vortäuschung, wiederholte seine Absichten und die Notwendigkeit, sie geheim zu halten. Takeshi versprach, geduldig zu sein. Sie kamen überein, dass Takeshi eine Weile bei der Miyoshifamilie leben sollte, und der junge Mann schien das als eine neue Herausforderung zu begrüßen.
    Â»Ich weiß, dass du glaubst, ich verwildere«, sagte er leise zu Shigeru. »In manchem stimmt das, aber wie du spiele auch ich eine Rolle, die meinem wahren Ich nicht entspricht. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass ich vieles davon nicht genieße! Sie macht mehr Spaß, als ein Bauer zu sein!«
    Später am Nachmittag ging Shigeru durch die Felder und dachte sowohl an die Sesamsaat als auch, mit einer gewissen Erleichterung, an Takeshi, als ein Mann aus den Schatten einiger Pfirsichbäume trat und ihn bei seinem Namen nannte.
    Er erkannte die Stimme sofort – sein Gefolgsmann, der Krieger Harada – und wandte sich ihm erfreut zu, denn er hatte ihn

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