Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
vor der Schlacht zum letzten Mal gesehen und geglaubt, er sei tot. Doch der Mann, der vor ihm auf die Knie sank, war fast unkenntlich. Sein Kopf und Gesicht waren in einen gelbbraunen Schal gehüllt und er trug das kurze Wams eines Arbeiters, Beine und FüÃe waren nackt. Shigeru glaubte kurz, er habe sich geirrt, doch der Mann hob den Kopf und sagte, ohne aufzusehen: »Lord Otori, ich bin es, Harada.«
»Ich habe nichts von dir gehört und angenommen,du wärst tot«, rief Shigeru. »Es ist eine groÃe Freude, dich zu sehen, aber du bist so verändert, dass ich dich kaum erkannt hätte.«
»Mein ganzes Leben hat sich verändert.« Harada sprach leise und bescheiden wie ein Bittsteller oder Bettler. »Ich bin froh, Sie lebend anzutreffen. Ich habe gefürchtet, Sie hätten sich dem Druck fügen und sich das Leben nehmen müssen.«
»Viele Leute meinen, ich hätte mich zu den Toten gesellen sollen«, sagte Shigeru. »Doch ich habe meine Gründe, bei den Lebenden zu bleiben. Du musst zu mir nach Hause kommen. Dann werden wir zusammen essen und ich erzähle dir davon. Wo bist du die ganze Zeit gewesen und warum, wenn ich fragen darf, die Veränderung in deinem Aussehen, deiner Kleidung?«
Er sah jetzt, dass Harada offenbar weder sein Schwert noch eine andere Waffe trug.
»Es ist besser, wenn ich nicht zu Ihnen nach Haus komme. Es soll nicht bekannt werden, dass ich in Hagi bin. Ich kann Ihnen nützlicher sein, wenn ich unerkannt bleibe. Können wir irgendwo reden?« Er senkte die Stimme noch mehr. »Ich habe eine Nachricht für Sie.«
»Am Ende des Tals ist ein kleiner Schrein. AuÃer an Festtagen ist er verlassen. Ich werde dorthin gehen.«
»Ich werde Sie dort treffen.« Harada neigte den Kopf bis zur Erde und blieb so, während Shigeru weiterging.
Das Treffen freute und beunruhigte Shigeru zugleich, er war froh, dass Harada noch lebte, doch verwirrt durch sein seltsames Aussehen und das Fehlen von Waffen. Er ging nicht direkt zum Schrein, sondern betrachtete prüfend weiter das Land und lieà sich Zeit, mit den Bauern zu reden, die um diese Jahreszeit Stoppeln und Bohnenstroh für Futter hackten und Laub von den Eichengehölzen für den Kompost sammelten. Sesam brauchte eine warme, südliche Lage. In dem rauen Land auÃerhalb der Stadt waren solche Felder rar, sie wurden bereits für Bohnen und anderes Gemüse genutzt. Die Bauern pflanzten genug davon für den eigenen Gebrauch, doch Sesam würde etwas sein, das sie an Händler in der Stadt oder direkt an die Haushalte der Kriegerklasse liefern konnten. Es würde ihnen Einkommen und vermehrte Möglichkeiten geben, ihr Leben selbst zu gestalten.
Eijiro hatte in seinen Aufzeichnungen Folgendes aufgeschrieben, was sich fast wie eine direkte Botschaft las: Immer wenn Sesam eingeführt wurde, sah ich eine Verbesserung in den Lebensbedingungen der Dorfbewohner und ein gesteigertes Wohlergehen einschlieÃlich eines gröÃeren Interesses an Bildung. Mehrere Dörfer wurden sogar dazu angeregt, ihre jungen Männer in Schulen, die in den Tempeln eingerichtet wurden, lesen lernen zu lassen.
Ein Platz wie dieser könnte eine Schule werden, dachte Shigeru, als er sich dem Schrein näherte. Er war fast leer bis auf einen jungen Mann von etwa vierzehn, den Sohn des Priesters im nächsten Dorf, der Wache hielt. Die Dorfbewohner lagerten verschiedenes Gerät hier, Hacken, Stöcke und Ãxte, ebenso Feuerholz, das ordentlich an die Südwand gestapelt war, damit es vor dem Winter austrocknete. Der Junge saà auf der ausgebleichten Holzveranda und aà aus einer Schüssel. Hinter ihm bereitete ein junges Mädchen Tee auf dem Herd, offenbar war sie seine Schwester. Shigeru konnte sich vorstellen, wie sie von ihrem Haus durch den Wald ging, um ihrem älteren Bruder das Abendessen zu bringen.
Er hatte mit dem Jungen schon zuvor geredet, jetzt sagte er nach der BegrüÃung: »Jemand kommt hierher, um mich zu treffen. Ich werde drinnen warten.«
»Meine Schwester wird Tee bringen«, antwortete der Junge und beugte den Kopf, machte aber kein weiteres Zeichen der Ehrerbietung, als wüsste er Bescheid über Shigerus Wunsch nach Formlosigkeit und Anonymität. Seit Kenjis Besuch während der Regenzeit hatte Shigeru bei den Leuten, die er in Feld und Wald traf, ähnliche, kaum sichtbare Anzeichen der Treue zum Reiher
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