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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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bemerkt.
    Er schlüpfte aus den Sandalen und trat in den verdunkelten Raum. Der Boden war vor kurzem gekehrt worden, doch die Luft roch modrig. Der Schrein wirkte leer, als ob der Gott anderswo schlafe und nur zurückkehre, wenn er durch die Festmusik geweckt werde.
    Shigeru dachte über die Existenz der Götter nach. Ließen sie sich wirklich wecken oder beeinflussen durch die Lieder und Gebete von Menschen? Dieser Teil des Waldes mit seinem kleinen Hain vermittelte ein Gefühl von Frieden und Gelassenheit, das fast feierlich wirkte. Wies das darauf hin, dass hier wirklich ein Gott wohnte?
    Seine Überlegungen wurden von der Stimme des Jungen unterbrochen, dann folgte die von Harada. Nach einigen Sekunden kam das Mädchen in den Schrein, sie trug ein Tablett mit zwei Holzbechern.
    Â»Ihr Gast ist hier, Herr.« Sie stellte das Tablett auf den Boden und als Harada hereinkam und niederkniete,stellte sie einen Becher vor ihn, den anderen vor Shigeru. Harada löste das Tuch um seinen Kopf und enthüllte eine schreckliche Narbe, die eine Seite seines Gesichts bedeckte. Er hatte ein Auge verloren und die ganze Wange schien abgeschnitten worden zu sein. Das Mädchen zuckte bei dem Anblick zusammen und schaute weg.
    Â»Bitte rufen Sie mich, wenn Sie mehr Tee brauchen«, flüsterte sie und ging hinaus.
    Harada leerte den Becher auf einen Zug und Shigeru fragte sich, ob er an diesem Tag etwas gegessen oder getrunken haben mochte. Dann griff er in sein Wams und zog ein kleines, flaches Päckchen heraus.
    Â»Das soll ich Lord Otori geben zum Beweis, dass meine Nachricht echt ist.«
    Shigeru nahm das Päckchen, das in sehr alte, verschossene graue Seide gehüllt war, so dünn wie Gaze. Ein schwerer Duft nach Weihrauch haftete daran. Er wickelte die Seide auseinander und entnahm ihr ein sehr kleines, gefaltetes Stück Papier. Darin war ein getrockneter Farnspross, perfekt in jeder Einzelheit, doch ebenso wie die Seide bereits sehr verblasst.
    Â»Du bist in Maruyama gewesen«, sagte er leise.
    Harada antwortete: »Die Botschaft lautet, dass es viel gibt, was die beiden Parteien persönlich und geheim besprechen müssen. Der östliche Teil der anderen Domäne muss inspiziert werden. Die andere beteiligte Person wird direkt jenseits der Grenze sein.«
    Er nannte einen Bergschrein, Seisenji, und sprach von der Pilgerreise, die die »andere Person« bei ihrem Aufenthalt in dem Bezirk machen wolle.
    Â»Beim nächsten Vollmond«, fügte er hinzu. »Welche Antwort soll ich zurückbringen?«
    Â»Ich werde dort sein«, sagte Shigeru. Er wollte gern mehr fragen – warum Harada nach der Schlacht nach Maruyama gegangen war, wie er die Verletzung überlebt hatte –, da entstand draußen große Unruhe. Das Mädchen schrie laut und wütend, der Junge rief etwas, Füße trampelten auf den Brettern und drei bewaffnete Männer drangen in den Tempel.
    Wenn es nicht so düster darin gewesen wäre, hätte Shigeru keine Chance gehabt, doch in der Sekunde, in der die Eindringlinge sich an das veränderte Licht gewöhnten und ihn im Dämmerlicht erkannten, war er auf den Beinen und hielt Jato in der Hand.
    Er wartete nicht, um zu fragen, was sie wollten – er hatte keinen Zweifel, dass sie gekommen waren, um ihn zu töten, jeder von ihnen hatte sein langes Schwert bereits gezogen. Ihre Gesichter waren verhüllt bis auf die Augen und ihre Gewänder ohne Kennzeichen. Sie waren in der Überzahl – Harada war, wie Shigeru wusste, unbewaffnet – und sein einziger Vorteil war Geschwindigkeit. Die beiden ersten zu töten war fast wie ein Reflex, die Klinge bewegte sich aus eigenem Antrieb auf schlangenartige Weise, erst in einem Abwärtsstoß, der dem ersten Mann tief in Seite und Bauch schnitt, dann wieder aufwärts, wobei sie die Kehle des zweiten traf. Der dritte Attentäter war einen Schritt hinter ihnen und konnte besser sehen. Seine Klinge fuhr pfeifend auf Shigerus Hals herunter, doch er hatte Jato schon vor sein Gesicht gehoben, konnte den Schlag parieren und die Klinge wegdrücken.
    Sein Gegner war schnell, stark und listig – ein Kämpfer von großer Fähigkeit, vielleicht der geschickteste, dem Shigeru je begegnet war, von Matsuda Shingen abgesehen. In den kurzen Momenten zwischen der vollkommenen Konzentration auf den Kampf fragte er sich, warum Harada nicht eingriff. Das war

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