Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
und seine FüÃe jegliches Gefühl verloren. Was erwartete er sich von dem Treffen â wenn sie sich tatsächlich dort trafen? Warum unternahm er diese Reise, die so unangenehm und gefährlich war? Würde sie überhaupt kommen? Würde sie nur kommen, um ihn zu verraten?
Shigeru erinnerte sich deutlich an den Moment, in dem er sich danach gesehnt hatte, die Hände unter ihr Haar zu schieben und die Form ihres Kopfes zu fühlen, doch er versuchte streng, das zu verdrängen. Sie hatte ihn getadelt, weil er sie nur als Frau sah, sie als Regentin nicht ernst nahm. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen. Wenn sie überhaupt dort war ⦠Jedenfalls wollte er keine Beziehung mehr zu Frauen, er fürchtete den Schmerz und die Enttäuschung, die aus der Leidenschaft entsprangen â aber ihr Haar!
Es war fast dunkel, als der Bergpfad, der jetzt mehr einem Wasserfall glich, steil zu einer breiteren, ebeneren StraÃe abfiel, die einen leichten Hang hinaufführte. Oben stand, vom Regen und den dunklen Zedern fast verborgen, ein kleines Gebäude mit gebogenem Dach und tiefen Vorsprüngen. Vier Pferde, darunter eine hübsche Stute, waren mit dem Rücken zum Wind unter einem kaum schützenden Unterstand angebunden, dessen Strohdach bei jedem Windstoà schwankte und Stoppeln und Spreu wie groÃe Regentropfen herunterwarf.
Shigeru blieb an der Treppe stehen und entledigte sich des Huts und der Sandalen, die völlig durchweicht waren. Trotz des Regens waren alle Türen offen. Er trat auf die Veranda und schaute hinein.
Der Regen strömte von den Dachvorsprüngen, spritzte vom Boden auf und umschloss das Gebäude wie ein lebendiger Vorhang. Drinnen waren Lampen angezündet, doch der Hauptraum des Tempels war leer mit seinem Boden aus nackten Brettern. Er schien kaum benutzt zu werden. Eine Holzstatue des Erleuchteten stand auf einer kleinen Plattform. Davor war eine Vasemit frischen Blumen, Silberblatt mit seinen gelben Blüten und Zweigen von heiligem Bambus mit roten Beeren. Es gab wenig sonstigen Schmuck oder Kunstgegenstände, nur unterhalb der Dachsparren einige Votivbilder von Ochsen und Pferden.
Er rief leise und hörte, wie Naomi mit ihrer Gefährtin Sachie sprach, hörte, wie die Frau aufstand und zur offenen Tür ging. Sie drehte sich um und flüsterte in den Innenraum: »Er ist es.«
Er gab Sachie ein Zeichen, weil er fürchtete, sie würde seinen Namen aussprechen, doch sie sagte einfach: »Kommen Sie herein. Wir erwarten Sie«, und neigte den Kopf. Er erinnerte sich an sie als eine elegante und kultivierte Dame von Rang, doch jetzt sah sie jünger und einfacher aus, ihre Kleidung war schlicht und wie die eines Mannes geschnitten. Im Innenraum lagen Matten und er zögerte an der Schwelle, in seinen nassen, verschmutzten Sachen wollte er sich nicht hinsetzen.
Lady Maruyama saà neben einer kleinen Lampe, aber es war so dunkel, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie stand auf und kam zu ihm. Auch sie trug Männersachen aus dunklem Stoff, ihr Haar war mit Schnüren zurückgebunden. Im Gegensatz zu Sachie wirkte sie in dieser Kleidung älter, gröÃer, in jeder Hinsicht stärker, doch den Zauber ihrer langen Haare konnten weder der Männeranzug noch die neue Magerkeit zerstören, die der Schmerz ihrem Gesicht zugefügt hatte und die jetzt die Schönheit der Knochen unter der weiÃen Haut enthüllte. Sie sah ihn freimütig an, ihr Blick war direkt und offen.
»Ich freue mich, Sie zu sehen. Danke, dass Sie von so weit hergekommen sind. Sie müssen müde sein. Und Siesind durchnässt. Sachie, können wir ihm trockene Sachen geben?«
»Ich frage den Pferdeknecht«, antwortete die Frau und ging leise hinaus, durch die Gebetshalle zur Veranda. Kurz darauf kam sie zurück mit einem trockenen Gewand, das schwach nach Pferd roch, als sei es vor kurzem aus einer Satteltasche genommen worden.
Shigeru ging mit Sachie zur anderen Seite der Halle, wo ein weiterer Raum in kleine Lagerräume und ein Büro mit Matten auf dem Boden abgeteilt worden war. Die Aufzeichnungen des Tempels waren in schimmelnden Haufen gestapelt und ein zerbrochener Tuschstein lag vergessen auf einem niedrigen Schreibtisch.
»Wohnt niemand hier?«, fragte Shigeru.
»Die Leute am Ort glauben, dass es in diesem Tempel spukt«, antwortete sie. »Niemand kommt auch nur in die
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