Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
wahnsinnig vor Leid. Stimmen wurden laut, dass ein Clan nicht von einer Frau geführt werden könnte, ein Mann würde nie so geschwächt werden.«
Er betrachtete ihr Gesicht in dem flackernden Lampenlicht. Es zeigte ihre Sorge, aber Shigeru hielt ihren Charakter für so ausgeglichen, dass kein Leid sie je in den Wahnsinn abgleiten lassen könnte. Er bewunderte sie ungeheuer und wollte ihr das sagen, fürchtete aber, die Tiefe eines Gefühls zu enthüllen, das er noch nicht einmal sich selbst eingestanden hatte. Er wurde unbeholfen, sprach in kurzen, abrupten Sätzen, die in seinen eigenen Ohren falsch klangen. Er wollte ihr von seinem Traum von dem Farnkind erzählen und wie viel ihre Nachricht ihm bedeutet hatte, sträubte sich aber, von seinem eigenen Leid zu sprechen, weil er dadurch weich werden könnte und dann â¦
Das Ergebnis ihres Gesprächs kam ihm karg und enttäuschend vor. Er konnte ihr nichts an politischer oder militärischer Unterstützung anbieten, nur dass sie sich einig waren in ihrem Wunsch nach Iidas Tod.
Doch die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit schien unüberwindbar. Alles, was er ihr versprechen konnte, war stille Unterstützung: Jahre des Wartens und der Heimlichkeit. Das war kaum wert, in Worte gefasst zu werden. SchlieÃlich verstummte ihr halbherziges Gespräch ganz und sie saÃen schweigend da. DrauÃen heulte der Wind, rüttelte am Dach, trieb den Regen an die Wände und schickte kalte Luft durch alle Ritzen.
»Ich glaube, wir könnten einander schreiben«, sagte Shigeru schlieÃlich und sie neigte zustimmend den Kopf, wünschte ihm dann aber nur noch eine gute Nacht. Er erwiderte ihren Wunsch und ging in das kleine Büro, auf der anderen Seite des Tempels, wo er sich hinlegte und fast die ganze Nacht schauderte in dem dünnen, schlecht sitzenden Gewand. Er wehrte den Gedanken ab, dass sie nur zwanzig Schritt entfernt von ihm schlief und ihn aus anderen, unausgesprochenen Gründen hergebeten haben mochte, jetzt, wo sie beide wieder unverheiratet waren.Â
Es war unmöglich, sie nicht zu bewundern: Sie war schön, intelligent, tapfer, und sie hatte tiefe Gefühle, ganz wie eine Frau sein sollte. Doch sie hatte so warm von ihrem Mann gesprochen, offensichtlich hatte sie ihn geliebt und betrauerte ihn immer noch. Shigeru sagte sich, dass er mit keiner Frau etwas zu tun haben wollte, am wenigsten mit einer von so hohem Rang, die schon von seinem gröÃten Feind begehrt wurde â und die er, das war ihm klar, nie heiraten durfte.
Als er erwachte, hatte der Regen aufgehört, obwohl der frühmorgendliche Himmel bedeckt blieb. Shigerus eigene Kleidung war immer noch feucht, doch er zog sie an und lieà das geliehene Gewand gefaltet auf dem Boden zurück. Sachie und Bunta waren ins nächste Dorf gegangen, um Proviant für ihre Rückreise zu kaufen, denn sie wollten alle das veränderte Wetter nutzen.
Naomi lud Shigeru ein zu bleiben, bis Sachie und Bunta zurückkamen, denn dann könnte er selbst Proviant mitnehmen, doch er wollte über den ersten Pass kommen, bevor es wieder Nacht wurde.
»Kann ich Sie allein lassen?«, fragte er.
Das erzürnte sie. »Wenn Sie gehen wollen, dann gehen Sie! Ich bin in keiner Gefahr, und selbst wenn ich es wäre, kann ich mich ganz bestimmt selbst verteidigen.« Sie deutete auf das Schwert neben sich. »DrauÃen sind auch noch Speere. Ich versichere Ihnen, dass ich mit beidem kämpfen kann.«
Sie trennten sich mit den üblichen Förmlichkeiten und einer gewissen Enttäuschung auf beiden Seiten.
Eine vergebliche Reise, dachte er. Wir sind beide hoffnungslos geschwächt. Er sah nicht, wie sie sich einander helfen könnten, konnte sich aber auch nicht vorstellen, ohne sie irgendetwas zu erreichen. Sie war seine einzige Verbündete.
Je weiter er ging, umso elender fühlte er sich, weil er sie verlassen hatte. Er wollte ihr noch so viel sagen. Er hatte ihr nicht erklärt, wie dankbar er ihr war, weil sie ihn gegen Iida unterstützte, sein Leid verstand, die Reise unternahm, um ihn zu sehen. Es konnte Monate dauern, bevor sie sich wieder trafen. Der Gedanke war plötzlich unerträglich. Er war kaum zwei Stunden lang gewandert, da setzte der Regen wieder ein, stärker denn je. Mit der Aussicht, die Nacht ohne Unterkunft zu verbringen, sagte er sich, es wäre weiser umzukehren. Sobald er das getan
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