Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
hörte nicht auf, an dich zu denken oder für deine Sicherheit zu beten. Als mein Mann und mein Sohn starben, hat mich nur der Gedanke an dich am Leben erhalten. Ich entschied, nachdem mir so viel genommen worden war, würde ich das Einzige, was ich wahrhaft wollte, ergreifen.«
»Mir ging es ebenso«, sagte Shigeru. »Aber welche Zukunft haben wir? Zuvor warst du ein schwacher Traum, eine ferne Möglichkeit. Jetzt bist du zu meiner Wirklichkeit geworden. Welchen Sinn wird unser Leben haben, wenn wir immer getrennt bleiben müssen?«
»Warum sollten wir nicht heiraten können? Komm nach Maruyama. Dort heiraten wir.« Naomis Stimme war warm und unbesorgt und ihr Optimismus führte ihn in einen Traum, in dem alles möglich war: Er würde heiraten und mit dieser Frau leben, sie würden ein friedliches Land im Westen verwalten ⦠Sie würden Kinder haben.
»Würde das je erlaubt werden?«, fragte er. »Meine Onkel sind jetzt die Anführer des Clans. Meine Heirat hätte eine gewisse Bedeutung für sie. Sie würden nie einer Verbindung zustimmen, die meine Position und Macht so stärken würde. Und dann ist da noch Iida Sadamu.«
»Die Tohan haben meine erste Heirat bestimmt. Warum sollten sie weiter über mein Leben entscheiden? Ich bin eine Regentin mit eigenem Recht. Ich lasse mir nichts diktieren!«
Ihre herrische Art brachte ihn zum Lächeln trotz seiner düsteren Vorahnungen. Er sah ihre Zuversicht â die Sicherheit einer Frau, die weiÃ, dass sie von dem Mann geliebt wird, den sie liebt. Trotz der Verluste im vergangenen Jahr sah sie immer noch jugendlich aus. Das Leid hatte sie gezeichnet, aber nicht ihren Geist zerstört.
»Lass uns darauf hinarbeiten«, sagte er. »Aber können wir so etwas geheim halten? Vielleicht gelingt es uns, ein- oder zweimal zusammenzukommen, ohne entdeckt zu werden, aber â¦Â«
»Lass uns jetzt nicht von der Gefahr reden«, unterbrach sie ihn sanft. »Wir kennen beide die Gefahr, wir müssen täglich mit ihr leben. Wenn wir uns nicht treffen können, dann wollen wir einander schreiben, wie du gestern Abend gesagt hast. Ich werde wie zuvor Briefe durch Sachies Schwester schicken.«
Das erinnerte ihn an ihre letzte Botschaft, die ihm sein früherer Gefolgsmann überbracht hatte.
»Du hast einen meiner Krieger getroffen, Harada? Sein Ãbertritt zu den Verborgenen hat mich überrascht.« Er sprach leiser, obwohl sie in dem Regen nicht belauscht werden würden, und vorsichtig, unsicher, wie viel sie enthüllen würde.
»Ja, Harada hatte eine Art Vision. Das ist nicht ungewöhnlich bei den Verborgenen. Ihr Gott spricht direkt zu ihnen, wenn sie zu ihm beten. Es scheint eine Stimme zu sein, die kaum vergessen kann, wer sie einmal gehört hat.«
Er spürte, dass sie von einer eigenen Erfahrung sprach. »Hast du sie gehört?«
Sie lächelte leicht. »Vieles in diesen Lehren spricht mich an«, erwiderte sie. »Meine Kinder haben mir beigebracht, wie wertvoll das Leben ist und wie schrecklich, es zu nehmen. Aber ich bin Anführerin meines Clans und das Schwert aufzugeben würde mein Volk dazu verdammen, sofort von all diesen bewaffneten Kriegern um uns herum besiegt zu werden. Wir müssen eine gewisse Macht haben, um den Grausamen und Ehrgeizigen in ihrer Eroberungslust standzuhalten. Aber wenn alle glaubten, nach ihrem Tod dem göttlichen Richter zu begegnen, würde ihre Angst vor Strafe sie vielleicht zügeln.«
Das bezweifelte Shigeru; er spürte, dass Männern wie Iida, die nichts im Himmel oder auf Erden fürchteten, nur durch Waffenstärke Einhalt geboten werden konnte.
»Manchmal meine ich, dass die Stimme mich ruft«, fuhr Naomi fort, »aber wegen meiner Position kann ich nicht antworten. Es erscheint mir ungeheuerlich, dass Menschen, die sich nicht verteidigen, verfolgt und gefoltert werden. Man sollte ihnen erlauben, in Frieden zu leben.«
»Sie sind mit einer himmlischen Kraft verbündet, nicht mit irdischen Regenten«, sagte Shigeru, »deshalb kann man ihnen nicht vertrauen. Ich bedaure sehr, dass Harada meine Dienste verlässt.«
»Du kannst Harada vertrauen«, sagte sie.
»Würdest du dabeistehen und zuschauen, wenn ich mich gegen drei Männer verteidige?«
»Nein, ich würde mit dir kämpfen. Ich behaupte nicht, eine der Verborgenen zu sein, ich
Weitere Kostenlose Bücher