Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
schreibe ich deinen Onkeln«, flüsterte sie, bevor sie laut über Heuschrecken und die Ernte sprach.
Am nächsten Tag, nachdem Abschied genommen und Lady Maruyama mit ihrem Gefolge nach Kibi aufgebrochen war, begleitete Kitano Masaji Shigeru auf seinem Weg nach Norden. Er sagte, er habe ein junges Pferd, das die Ãbung brauche. Shigeru gab sich seinen Tagträumen hin: Naomis Plan würde gelingen, sie würden heiraten, er würde Hagi mit all seinen schmerzlichen Erinnerungen an Niederlage und Tod verlassen und mit ihr in Maruyama leben. Nur mit halber Aufmerksamkeit antwortete er auf Masajis Kommentare und Fragen.
Sie hatten fast den Pass am Ende des Tals erreicht, als plötzlich ein Reiter aus dem Wald an der östlichen Seite kam. Shigerus Hand fuhr sofort zu seinem Schwert, dievon Masaji ebenfalls, während sie die Pferde zügelten und sie nach Osten ausrichteten.
Der Mann sprang von seinem Pferd, nahm den Helm ab, fiel auf ein Knie und verneigte sich tief.
»Lord Otori«, sagte er ohne förmliche BegrüÃung, bevor die anderen etwas sagen konnten, »Sie sind zurückgekommen. Sie sind gekommen, um uns wieder zu den Waffen zu rufen. Wir haben auf Sie gewartet.«
Shigeru starrte ihn an. Etwas war vertraut am Gesicht dieses Mannes, aber er wusste nicht, woher er ihn zu kennen glaubte. Er war jung, noch nicht zwanzig, sein Gesicht hager und knochig, seine Augen funkelten aus tiefen Höhlen.
Er ist verrückt, dachte Shigeru, durch einen groÃen Verlust um den Verstand gebracht.
Er versuchte freundlich, aber fest zu sprechen. »Ich bin nicht gekommen, um dich oder sonst jemanden zu den Waffen zu rufen. Der Krieg ist vorbei, wir leben jetzt in Frieden.«
Masaji zog sein Schwert. »Dieser Mann verdient den Tod.«
»Er ist nur ein Irrer«, sagte Shigeru. »Finde heraus, von wo er kommt, und bring ihn zu seiner Familie.«
Masaji zögerte einen Moment, lange genug für den Fremden, mit der zielstrebigen Schnelligkeit des Verrückten wieder aufs Pferd zu steigen und es zurück in den Wald zu lenken. Mit heiserer Stimme rief er: »Es ist also wahr, was alle sagen: Die Otori haben uns in Yaegahara im Stich gelassen und sie lassen uns wieder im Stich.«
Er wendete das Pferd und galoppierte wieder zurück,bahnte sich einen Weg zwischen den Bäumen hindurch und verschwand rasch.
»Ich reite ihm nach und fange ihn«, sagte Masaji erregt und rief seine Männer zusammen. »Kennen Sie ihn, Lord Shigeru?«
»Ich glaube nicht.«
»Es gibt viele herrenlose Männer zwischen hier und Inuyama«, sage Masaji. »Sie werden zu StraÃenräubern. Mein Vater versucht sie auszulöschen. Leben Sie wohl, Shigeru, ich bin froh, dass wir die Gelegenheit zu diesem Wiedersehen hatten. Ich wollte Ihnen schon lange sagen, dass ich Ihnen nicht verüble wie so viele, dass Sie sich nicht das Leben genommen haben. Ich bin überzeugt, Sie hatten gute Gründe und es geschah nicht aus Mangel an Mut.«
Es blieb keine Zeit für eine Antwort, Masaji und seine Männer lieÃen ihre Pferde bereits zur Verfolgung des Wahnsinnigen kantern. Shigeru trieb Kyu in einem Galopp den steilen Pfad zum Pass hinauf, er wollte beide hinter sich lassen, den Irren und den Mann, der einmal ein Freund gewesen war, er wollte auch ihre Worte vergessen, die seine Gefühle des Versagens und der Ehrlosigkeit viel zu sehr wiederbelebten. Erst in der Nacht, gerade bevor er einschlief, erinnerte er sich, wo er den Mann schon gesehen hatte. Es war im Elternhaus seiner Frau in Kushimoto gewesen. Der Mann war von den Yanagi, die alle auÃer ihm in der Schlacht ausgelöscht worden waren von dem Verräter Noguchi, dessen Name inzwischen nicht mehr ausgesprochen wurde. Die Erinnerung war traurig und verstörend, weckte alle seine Schuldgefühle und seinen Kummer wegen Moe, seineZweifel an dem Weg, den er gewählt hatte, sein Gefühl, dass der Tod durch seine eigene Hand die mutigere Entscheidung gewesen wäre.
Sogar Juro Sukenari wartete achtzehn Jahre, bis er seinen Vater rächte. Seit Yaegahara und dem Tod seines eigenen Vaters waren erst drei Jahre vergangen. Machte er sich etwas vor, wenn er glaubte, die Geduld zu haben, noch fünfzehn Jahre zu warten und ständig Erniedrigungen wie die heutigen zu ertragen?
Der Mondwechsel hatte einen Wetterumschlag gebracht. Es war wesentlich kälter und Shigeru hörte, wie der Regen sein erstes
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