Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
den Tag, an dem er den jetzt allmächtigen Lord der Tohan nackt gesehen hatte. Dass seine neue Rolle selbst im fernen Osten akzeptiert wurde, erleichterte und ermutigte ihn. Noch dazu meinte er, wenn irgendwelche Gerüchte über seine Treffen mit Naomi Kenji erreicht hätten, hätte der Stammesmeister es ihm gesagt. Kenji schien es Spaà zu machen, ihm Dinge zu erzählen, die er über ihn wusste. Wenn er nichts sagte, bedeutete es wahrscheinlich, dass er nichts wusste. Der junge Mann, Bunta, hatte ihn nicht verraten, er war nicht vom Stamm. Shigeru lächelte wieder über seinen eigenen Verdacht und füllte erneut die Weinbecher.
Kenji blieb ein paar Tage und die beiden Männer kamen sich näher. Die Ereignisse aus ihrer Vergangenheit, ein gemeinsames Vergnügen an den guten Dingen des Lebens und eine gewisse gegenseitige Anziehung vertieften ihre Freundschaft. Kenji wurde tatsächlich der engste Freund, den Shigeru mit Ausnahme von Kiyoshige je gehabt hatte. Wie Kiyoshige interessierte sich der Fuchs sehr für Frauen und drängte Shigeru häufig, ihn zu den Freudenhäusern von Hagi zu begleiten, besonders zum berühmten Haus der Kamelien, wo Haruna immer noch herrschte. Shigeru lehnte immer ab.
Am Wochenende machten sie eine kurze Reise in die Berge östlich von Hagi. Kenji war ein ausgezeichneter Gefährte, wusste alles über wild wachsende Pflanzen und Tiere, kannte viele verborgene Pfade, die tief in den Wald führten, war unermüdlich und bereit, jede Unbequemlichkeit, jede Ãberraschung des Reisens mit unerschütterlich guter Laune zu ertragen.
Er erzählte Shigeru auch einiges über den Stamm. Aber als Shigeru zu Hause dieses neue Wissen aufschreiben wollte, merkte er, dass es gröÃtenteils oberflächlich war â eine Adresse, eine Familienbeziehung, irgendeine alte Geschichte über Bestrafung oder Rache. Kenji vermied es geschickt, konkrete Einzelheiten mitzuteilen. Shigeru fing an zu glauben, dass er nie die Mauer der Geheimhaltung durchdringen könne, die der Stamm um sich und seine Aktivitäten errichtet hatte, nie seinen Halbbruder entdecken werde â¦
Kenji kam noch einmal, bevor der Winter solchen Reisen ein Ende bereitete, und dann wieder im vierten Monat des folgenden Jahrs. Immer brachte er Neuigkeiten von jenseits des Mittleren Landes: die anhaltende Gesundheit von Iidas Sohn, des Kriegsherrn verschiedene Eroberungen, die sporadische Verfolgung der Verborgenen, Arai Daiichis Ãrger, weiterhin im Schloss der Noguchi festzusitzen, Shirakawas älteste Tochter Kaede, die in diesem Jahr als Geisel in ebendieses Schloss geschickt worden war. Gelegentlich hatte er Neuigkeiten aus Maruyama, Shigeru hörte sie ausdruckslos an und hoffte, Kenji würde seinen beschleunigten Herzschlag nicht bemerken. Schweigend dankte er dann dafür, dass es ihr gut ging, dass ihre Tochter noch keine Geisel war.
Der Sommer war heià mit frühen, heftigen Taifunen, die wie üblich Ãngste wegen der Ernte auslösten. Shigerus Mutter fühlte sich in diesem Sommer häufig krank â die Hitze bekam ihr nicht und ihre Stimmung wurde unvorhersehbar.
Nach dem Vollmond des neunten Monats wurde es endlich kühler. Das Treffen mit Naomi im vergangenen Jahr kam Shigeru vor, als hätte er es sich ausgedacht. Fast hatte er die Hoffnung aufgegeben, je wieder von ihr zu hören, da brachte ihm ein Bote einen Brief von Eijiros Witwe. Sie schrieb, sie habe die Erlaubnis erhalten, eine letzte Reise in ihre alte Heimat zu machen und im örtlichen Tempel ein Denkmal für ihren Ehemann und die Söhne einzuweihen. War es möglich, dass Lord Shigeru zu der Feier kam? Es würde ihr und den Geistern der Toten so viel bedeuten. Sie werde mit ihrer Schwester Sachie reisen. Sie erwarteten keine Antwort, würden aber beim nächsten Vollmond dort sein.
Diese Nachricht gab Shigeru Rätsel auf. Bedeutete es, sie würde dort sein? Doch das Ereignis klang so offiziell: Wenn er ging, würde er als Otori Shigeru gehen müssen, nicht als unerkannter Reisender. Eijiros Ländereien waren der Domäne Tsuwano übereignet worden, die noch Teil des Mittleren Landes war, doch ihr Lord, Kitano, begünstigte die Allianz mit den Tohan und zählte nicht zu Shigerus Freunden. Stellte Kitano ihm in Iida Sadamus Interesse eine Falle?
Doch trotz allem Verdacht bedeutete die schwache Möglichkeit, sie zu sehen, dass er gehen
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