Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
mich für einen Dummkopf halten. Soll ich dir wieder vertrauen und verzeihen, nur um deine Schuldgefühle zu vermindern? Wozu? Ich habe mich aus der Politik zurückgezogen, ich interessiere mich für nichts auÃer dafür, mein Land zu bestellen und meinen geistigen Pflichten nachzukommen. Was vorbei ist, ist vorbei. Deine Reue kann die Schlacht nicht ungeschehen machen oder die Toten zurückbringen.«
»Ich werde mich gegen Ihre Verachtung und Ihr Misstrauen nicht verteidigen, denn ich verdiene beides. Ich bitte Sie nur, die Dinge aus der Sicht einer Frau vom Stamm zu sehen, die Ihnen jetzt helfen will.«
»Ich weiÃ, dass du eine unübertroffene Schauspielerin bist«, sagte er, »und bei dieser Vorstellung wächst duüber dich hinaus.« Er wollte ihr gerade befehlen zu gehen, die Wachtposten rufen und sie hinauswerfen und töten lassen.
Da hielt sie ihm die offenen Hände hin. Er sah die ungewöhnlichen Linien, die gerade über die Hände liefen, als hätte man sie entzweigeschnitten. Er starrte sie an und versuchte, sich zu erinnern ⦠an etwas, das sein Vater gesagt hatte, über die Kikutafrau.
»Lord Otori, wie kann ich Sie überzeugen, dass Sie mir trauen können?«
Er hob den Blick von den Händen zu ihrem Gesicht. Unmöglich lieà sich sagen, ob sie es ehrlich meinte oder nicht. Er schwieg einige Momente und bemühte sich, seinen Zorn zu zügeln, versuchte die Gefahren und die Vorteile abzuwägen, die ihm diese unerwartete neue Entwicklung bringen konnte, und dachte mit kurzer Trauer an den jungen Yanagi, seine Schmerzen, seine Erniedrigung. Dann wandte er sich ab von ihr und sagte abrupt: »Was bedeuten die Linien in deinen Handflächen?«
Sie schaute zu ihnen hinab. »Manche von uns mit Kikutablut haben dieses Kennzeichen. Angeblich deutet es groÃe Fähigkeiten an. Mein Onkel hat Ihnen etwas über diese Dinge erzählt?«
»Könntest du mir helfen, wenn ich mehr über die Kikutafamilie wissen wollte?« Er drehte sich ihr wieder zu.
Sie hob den Blick. »Ich werde Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen.«
Sein Misstrauen kehrte zurück. »Bist du sicher, dass dir das erlaubt wird?«
»Das ist nur meine Entscheidung. Ich verlege meine Treue vom Stamm auf Lord Otori.«
»Warum?« Er glaubte ihr nicht.
»Ich möchte wegen der Vergangenheit Veränderungen bewirken. Ich habe gesehen, wie grausam die Tohan vorgehen. Im Stamm werden wir dazu erzogen, uns nicht um die Unterschiede von Recht und Unrecht, Edelmut und Gemeinheit zu kümmern. Wir haben andere Anliegen: unser eigenes Ãberleben, unsere eigene Vermehrung vom Macht und Wohlstand. Mir wurde nie erlaubt, selbst zu entscheiden. Ich habe immer getan, was man mir gesagt hat. Gehorsamkeit ist der Charakterzug, den der Stamm am höchsten schätzt. Aber seit der Geburt meiner Söhne empfinde ich anders. Etwas ist geschehen ⦠Ich kann Ihnen nicht sagen, wann genau das war, aber es hat mich tief erschüttert. Es lieà mich erkennen, dass es mir lieber wäre, wenn meine Söhne in Lord Otoris Welt lebten als in der von Iida Sadamu.«
»Höchst rührend! Und völlig unrealistisch, weil meine Welt für immer verschwunden ist.«
»Wenn Sie das wirklich glauben würden, wären Sie tot«, erklärte sie leise. »Die Tatsache, dass Sie weiter leben, sagt mir, dass Ihre Welt wiederhergestellt werden kann, und das ist Ihre Hoffnung. Auch Arai hofft das. Lassen Sie uns zu diesem Zweck zusammenarbeiten.«
Er schaute kurz zu ihr hinüber, sah, dass sie ihn immer noch anstarrte, und schaute dann weg. Die Nacht wurde kälter, er spürte die eisige Luft an seinen Wangen. Er rückte näher an die Kohlenpfanne.
»Ich schwöre beim Leben meiner Söhne«, sagte sie, »ich bin nicht auf Befehl des Stamms, Iidas, Ihrer Onkel oder von sonst jemand gekommen. Gut, Kenji sagte mir,ich solle zu Ihnen gehen, aber er weià nicht, warum ich froh war, ihm zu gehorchen.« Als er immer noch schwieg, fuhr sie fort: »Arai hofft nicht als Einziger unter den Seishuu, dass Iida zu Fall gebracht wird. Lady Maruyama muss das auch wünschen. Besonders seit Iida verlangt hat, dass ihre Tochter nächstes Jahr als Geisel nach Inuyama geschickt wird.«
»Ist Lady Maruyama auch unter Verdacht?«
»Weniger als Sie. Aber sie war auch in Misumi. Sie haben mit ihr gesprochen,
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