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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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vorsichtiges Muster aufs Dach klopfte. Er dachte an die Kraft des Wassers: Es ließ sich von Stein und Erde kanalisieren, doch es trug den Stein ab und wusch die Erde weg. Der Klang des Regens schläferte Shigeru ein und sein letzter Gedanke war, dass er so geduldig sein werde wie das Wasser.

KAPITEL 42 

    Ein paar Wochen später, gerade vor dem Winterbeginn, bemerkte Shigeru auf dem Heimweg an einem bitterkalten Tag, dass ihm jemand folgte. Er drehte sich um und sah eine Gestalt, die sich mit großem Hut und Umhang so vermummt hatte, dass man unmöglich sagen konnte, ob es ein Mann oder eine Frau war. Allerdings war die Person nicht sehr groß. Shigeru ging schneller, bereit, zum Schwert zu greifen. Die Straße unter seinen Füßen war gefroren und eisig. Fast unbewusst sah er sich nach festerem Boden um, auf dem er sich, wenn nötig, jemandem entgegenstellen konnte, doch als er sich wieder umdrehte, war sein Verfolger verschwunden – obwohl Shigeru das Gefühl hatte, er sei noch da, wenn auch unsichtbar. Ihm war, als hätte er einen ganz leisen Schritt gehört, einen ganz schwachen Atemzug.
    Â»Bist du das, Kenji?«, fragte er, denn manchmal spielte ihm der Fuchs solche Streiche, aber es kam keine Antwort. Der Wind blies kälter, die Nacht brach herein. Als er sich umdrehte, um nach Hause zu eilen, überholte ihn jemand und er fing den leichten Duft einer Frau auf.
    Â»Muto Shizuka!«, sagte er. »Ich weiß, dass du es bist. Zeig dich!«
    Doch wieder kam keine Antwort. Wütender wiederholte er: »Zeig dich!«
    Zwei Männer kamen mit einem Karren voller Kastanien um die Ecke. Verwundert starrten sie Shigeru an.
    Â»Lord Otori! Was ist los?«
    Â»Nichts«, antwortete er. »Nichts ist los. Ich bin auf dem Heimweg.«
    Sie werden glauben, ich sei wahnsinnig geworden. »Nicht nur der Bauer, sondern der verrückte Bauer«, murmelte er, als er das Tor zum Haus seiner Mutter erreichte und überzeugt war, dass die beiden direkt zum nächsten Gasthaus gehen und über ihn klatschen würden.
    Die Hunde sprangen auf und wedelten bei seinem Anblick mit dem Schwanz. »Ist jemand hereingekommen?«, rief er den Wachtposten zu.
    Â»Niemand, Lord«, antwortete einer.
    Chiyo sagte das Gleiche, als sie zu seiner Begrüßung herauskam. Er ging durch jeden Raum – niemand war da. Doch er war überzeugt, immer noch den schwachen, unvertrauten Duft zu riechen. Zerstreut badete er und aß, wobei er sich seiner Verletzbarkeit durch den Stamm auf unangenehme Art bewusst war. Gift könnte in seinem Essen sein, ein Messer könnte plötzlich durch die Luft fliegen, eine Mundvoll Nadeln mit übernatürlicher Kraft und Geschwindigkeit in sein Auge gespuckt werden und er würde sterben, fast ohne es zu merken.
    Er hatte das Schwert abgelegt, als er das Haus betrat. Jetzt wies er Chiyo an, es ihm zu bringen. Er legte es auf den Boden neben sich und schob es in seine Schärpe, als er nach der Mahlzeit in den Raum ging, in dem er die meisten Abende lesend und schreibend verbrachte. Ichiro hatte sich früh zurückgezogen, er litt an einer schweren Erkältung. Chiyo hatte bereits zwei Kohlenpfannen in den Raum gestellt, aber die Luft war noch so kalt, dass er seinen Atem sehen konnte. Und einen zweiten. Eine winzige Wolke hing auf Kniehöhe.
    Â»Muto.« Er zog sein Schwert.
    Sie kam aus dem Nichts: In einem Moment war der Raum leer, dann schimmerte die Luft, im nächsten kniete Muto auf dem Boden vor ihm. Obwohl er das Gleiche bei Kenji beobachtet hatte, machte es ihn immer noch schwindlig, als wäre die Wirklichkeit verdrängt. Er holte tief Luft.
    Â»Lord Otori.« Sie senkte die Stirn zum Boden und blieb in dieser Haltung, ihr Haar fiel ihr übers Gesicht und entblößte den schlanken Hals.
    Wenn er ihr auf der Straße oder im Wald begegnet wäre, wenn sie gestanden hätte, gegangen wäre – in jeder Stellung außer in dieser –, hätte er mit ihr gekämpft und sie getötet, um sie für ihr falsches Spiel und ihren Verrat zu bestrafen. Aber er hatte noch nie eine Frau oder einen unbewaffneten Mann getötet – obwohl sie kaum eine gewöhnliche Frau war, schien sie unbewaffnet zu sein; außerdem war ihm der Gedanke zuwider, Blut im eigenen Haus zu vergießen. Und sie hatte seine Neugier geweckt, denn jetzt hatte er mit eigenen Augen gesehen, was sein Vater gesehen

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