Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
weder verheiratet noch frei, nur von den kleinsten Körnchen der Erinnerung genährt. In ihren dunkelsten Momenten dachte sie manchmal daran, ihre Tochter zu opfern für die Chance, Shigeru zu heiraten. Sie würden sich nach Maruyama zurückziehen und auf die offene Schlacht vorbereiten. Dann erinnerte sie sich daran, wie lieb und tapfer Mariko war, und Scham und Reue überschwemmten sie. Alle diese Gefühle wurden durch ihre Angst um Shirakawa Kaede verstärkt, nicht nur um des Mädchens selbst willen, sondern auch weil Kaede nach Mariko ihre nächste weibliche Verwandte war â Erbin von Maruyama, wenn sie und ihre Tochter sterben sollten.
Wie sie gehofft hatte, kam Arai an diesem Abend zu ihr. Der Besuch wurde nicht verheimlicht â sie waren beide von den Seishuu, es war zu erwarten, dass sie sich trafen. Muto Shizuka begleitete ihn. Naomi begrüÃte sie mit gemischten Gefühlen. Shizuka hatte Shigerus Abschiedsbrief nach Maruyama gebracht und schon die Erinnerung daran erfüllte Naomi mit dem gleichen Gewirr aus Schmerz, Eifersucht und Verzweiflung. Sechs Jahre waren vergangen, doch ihre Gefühle waren nicht schwächer geworden. Ihre Wege hatten sich von Zeit zu Zeit gekreuzt und Shizuka hatte manche Nachrichten von Shigeru gebracht. Jetzt wartete Naomi mit den gleichen widersprüchlichen Emotionen: Sicher, sie würde Neuigkeiten über ihn erfahren, doch Shizuka war bei ihm gewesen, hatte seine Stimme gehört, kannte alle seine Geheimnisse, hatte vielleicht sogar seine Berührung gespürt. Dieser letzte Gedanke war Naomi unerträglich. Er hatte ihr versprochen, nie mit einer anderen als ihr zu schlafen, aber sechs Jahre ⦠Bestimmt konnte sich kein Mann so lange zurückhalten. Und Shizuka war so attraktiv â¦
Sie tauschten Höflichkeiten und Sachie brachte Tee. Nachdem sie ihre Gäste bedient hatte, sagte Naomi: »Lord Arai ist jetzt Hauptmann der Wachtposten. Ich nehme an, Sie sehen Lord Shirakawas Tochter nur selten.«
Er trank und sagte: »Ich wäre glücklich, wenn ich sie nur selten sehen würde, denn das würde bedeuten, dass sie angemessen behandelt und in die Noguchifamilie aufgenommen worden wäre. Ich sehe viel zu viel von ihr, genau wie alle Wachtposten!«
»Wenigstens ist sie am Leben!«, rief Naomi. »Ich hatte gefürchtet, sie wäre gestorben und die Noguchi würden es verheimlichen.«
»Sie behandeln sie wie eine Magd«, entgegnete Arai wütend. »Sie wohnt bei den Mägden und soll die gleichen Pflichten erfüllen. Ihr Vater darf sie nicht sehen. Sie reift gerade zur Frau, sie ist ein sehr schönes Mädchen. Die Wachtposten schlieÃen Wetten ab, wer sie zuerst verführt. Ich tue, was ich kann, um sie zu beschützen. Sie wissen, dass ich jeden töten werde, der Hand an sie legt. Aber es ist beschämend, ein Mädchen aus ihrer Familie so zu behandeln!« Er unterbrach sich abrupt. »Mehr kann ich nicht sagen. Ich habe Lord Noguchi Treue geschworen, ungeachtet der möglichen Folgen, und ich muss mit meinem Schicksal leben.«
»Aber nicht für immer«, sage Naomi leise. Arai schaute zu Shizuka hinüber, die einen Augenblick zu horchen schien, bevor sie ihm leicht den Kopf zuneigte.
Er flüsterte: »Kennen Sie Lord Otoris Absichten? Wir hören wenig von ihm â man sagt, er ist schwach geworden und hat seinen Anspruch auf Ehre aufgegeben, damit er am Leben bleiben darf.«
»Ich glaube, er ist sehr geduldig«, sagte Naomi, »wie wir alle es sein müssen. Aber ich stehe nicht mit ihm in Verbindung.« Sie sah Shizuka an, die vielleicht etwas sagen wollte, aber Shizuka schwieg.
»Ich habe hier Geduld lernen müssen«, entgegnete Arai bitter. »Wir sind geteilt und hilflos gemacht worden. Wir sitzen alle getrennt voneinander in der Finsternis und denken voll Reue an das, was hätte sein können. Wird sich je etwas verändern? Ich werde Kumamoto ganz verlieren, wenn mein Vater stirbt und ich hier weiter verkomme. Lieber handeln und versagen als so weitermachen!«
Naomi fand darauf keine andere Antwort, als ihn zu bitten, weiter geduldig zu sein, doch bevor sie etwas sagen konnte, gab Shizuka Arai ein Zeichen und sofort fing er an, über das Wetter zu sprechen. Naomi reagierte mit Erkundigungen nach der Gesundheit seiner Frau.
»Sie hat kürzlich ihr erstes Kind geboren â einen Sohn«, sagte
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