Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Arai kurz.
Naomi schaute rasch zu Shizuka hinüber, doch deren Gesicht verriet nichts. Naomi hatte oft neidisch gedacht, wie glücklich sie war, weil sie so offen mit dem Mann leben konnte, den sie liebte, und seine Kinder bekam. Doch Shizuka musste jetzt neidisch auf die Frau ihres Liebhabers und auf seinen ehelichen Sohn sein. Und was würde mit den beiden älteren Jungen geschehen?
Eine Stimme von drauÃen unterbrach ihre Gedanken. Die Dienerin schob die Tür auf und gab den Blick auf einen Wachtposten von Arai frei, der drauÃen kniete. Er brachte die Nachricht, dass die Anwesenheit des Hauptmanns im Schloss verlangt werde.
Arai ging ohne ein Wort auÃer den Abschiedsformeln. Naomi war froh, dass er über Kaede wachte, doch seine Einstellung bedrückte sie. Er war so ungeduldig. Ein kleines Vorkommnis reichte aus, um ihn aufzubringen, und dann wären sie und ihr Kind unter Verdacht. Shigerus Jahre geduldigen Wartens würden vergeblich sein. Shizuka blieb noch ein bisschen, aber im Haus wurde es geschäftiger, als die Dienerinnen das Bad und das Abendessen richteten, und sie redeten nur über Trivialitäten. Doch bevor Shizuka ging, sagte sie: »Ich breche morgen nach Yamagata auf. Ich bringe meine Söhne zu meiner Familie in den Bergen. Vielleicht könnten wir einander unterwegs Gesellschaft leisten?«
Naomi bekam sofort Lust, nach Terayama zu reisen und in den friedlichen Gärten zu spazieren, wo sie Shigeru zum ersten Mal begegnet war, ihn als seelenverwandt erkannt und die Ãberzeugung gewonnen hatte, dass sie aus einem früheren Leben miteinander verbunden waren. Sie hatte geplant, sich nach Hofu zu begeben und mit dem Schiff zur Mündung des Inugawa und von dort am Fluss entlang stromaufwärts nach Inuyama zu reisen, doch der Gedanke an die Seefahrt beunruhigte sie jetzt schon. Es gab keinen Grund, warum sie ihre Pläne nicht ändern und mit Shizuka auf der HauptstraÃe über Yamagata reisen sollte.
Sie hatte die Sänfte für die Reise kommen lassen, doch sobald sie die Vororte der Stadt hinter sich hatten, bestieg sie ihr Pferd, das einer der Männer neben seinem geführt hatte. Auch Shizuka war zu Pferd. Ihr jüngerer Sohn, der etwa sieben war, saà hinter ihr, der ältere hatte sein eigenes kleines Pferd, mit dem er geschickt und selbstbewusst umging.
Der Anblick der Jungen erinnerte Naomi an ihren eigenen Sohn, der jetzt so alt wie Zenko wäre, wenn er noch lebte, und traurig dachte sie an die ungeborenen Kinder, die es nie geben würde â Shigerus Söhne. Sie wollte sie rein durch die Kraft ihrer Sehnsucht und ihres Willens ins Dasein bringen: Sie wären wie diese Jungen, mit starken Gliedern, dichtem glänzendem Haar und furchtlosen schwarzen Augen.
Zenko ritt mit den Männern voraus. Sie behandelten ihn mit Respekt, neckten ihn aber liebevoll. Ihr Gelächter und ihre Witze machten den Jüngeren eifersüchtig und beim ersten Halt bat er um die Erlaubnis, mit seinem Bruder zu reiten. Einer der Wachtposten setzteihn gutmütig auf seinen Pferderücken und die beiden Frauen fanden sich praktisch allein auf der StraÃe, die sich am Flussufer entlangwand â der Westgrenze des Mittleren Landes. Hinter jeder Biegung waren Reisfelder angelegt, auf denen mit Gesang und Trommelschlägen die Setzlinge gepflanzt wurden. Reiher, auch Silberreiher, stolzierten durch das flache Wasser und das Lied der Grasmücken scholl aus dem Wald. Alle Bäume trugen frische, strahlend grüne Blätter und Wildblumen breiteten sich über die Ufer aus. SüÃe Kastanienknospen zogen Hunderte von Insekten an. Die Luft war warm, aber noch frisch im Schatten des Waldes.
Naomi konnte ihre Ungeduld nicht länger zügeln. »Hast du Lord Otori gesehen?«, fragte sie.
»Ich sehe ihn von Zeit zu Zeit«, sagte Shizuka, »aber ich bin dieses Jahr noch nicht in Hagi gewesen. Im vergangenen Jahr sah ich ihn im Frühling und im Herbst.«
Zu Naomis Ãberraschung schossen ihr Tränen in die Augen. Weil sie ihrer Stimme nicht traute, schwieg sie. Obwohl sie den Kopf zur Seite drehte, als würde sie die Schönheit der Landschaft in sich aufnehmen, musste Shizuka ihren Kummer bemerkt haben, denn sie fuhr fort: »Es tut mir leid, Lady, dass ich ihn sehen kann und Sie nicht. Er vergisst Sie nicht. Er denkt die ganze Zeit an Sie und sehnt sich nach Ihnen.«
»Erzählt er dir davon?« Es
Weitere Kostenlose Bücher