Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
erleichtert, dass der Sohn keine der Schwächen seines Vaters wie Unentschlossenheit und Selbstbezogenheit zeigte.
Shigeru wäre länger geblieben â es gab so viel zu lernen â, aber die bevorstehende Regenzeit erforderte die Abreise. Doch Yamagata lag nahe beim Tempel und er hoffte, die Stadt im Lauf des Jahres bei Matsuda Shingen häufig besuchen zu können.
Während sie langsam an den Reisfeldern vorbeiritten, wo Libellen schwirrten und schwebten, und in die Bambushaine gelangten, dachte er an den Mann, der sein Lehrer sein würde. Jeder sprach mit Ehrfurcht von Matsuda, von seiner überlegenen Gewandtheit mit dem Schwert, seinem unvergleichlichen Wissen über die Kriegskunst, seiner völligen Beherrschung von Körper und Geist und jetzt seiner aufopfernden Verehrung des Erleuchteten.
Wie alle seiner Klasse war Shigeru nach den Lehren des Heiligen erzogen worden, die vor Jahrhunderten vom Festland gebracht, aber der Philosophie der Krieger angepasst worden waren. Selbstkontrolle, Beherrschung der Leidenschaften, ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit allen Lebens und die Bedeutungslosigkeit von Leben und Tod waren ihnen von Kindheit an eingeprägt worden, obwohl dem Fünfzehnjährigen das Leben überhaupt nicht unwesentlich vorkam, sondern vielmehr unermesslich reich und schön, mit allen Sinnen zu genieÃen, und der eigene Tod so fern, dass er fast unvorstellbar erschien. Doch er wusste, der Tod konnte jedenAugenblick eintreten â ein Sturz vom Pferd, ein infizierter Kratzer, ein plötzliches Fieber â, im Frieden ebenso wie auf dem Schlachtfeld. Und der Tod im Kampf erschien jetzt noch wahrscheinlicher. Den eigenen Tod fürchtete er nicht â als Einziges fürchtete er immer noch den Tod von Takeshi.
Der Erleuchtete, ein junger Mann wie er, ein Herrscher mit allen materiellen Segnungen, die das Leben bieten kann, hatte Mitleid empfunden für Männer und Frauen, die im endlosen Kreislauf von Geburt, Tod und Leid gefangen waren, er hatte studiert, war gereist und schlieÃlich in Meditation versunken, bis die Erleuchtung ihn und seine Anhänger befreite. Viele Jahrhunderte später war der Krieger Matsuda Shingen einer seiner eifrigsten Jünger geworden, hatte das Kämpfen aufgegeben und war jetzt ein schlichter Mönch, der um Mitternacht aufstand, um zu beten und zu meditieren, häufig fastete und körperliche und geistige Fähigkeiten entwickelte, von denen die meisten Männer noch nicht einmal träumten.
Das hatte Shigeru von seinen Gefährten in Hagi erfahren, doch woran er sich von früheren Besuchen am deutlichsten erinnerte, waren die strahlenden Augen des Ãlteren und ihr Ausdruck von Weisheit und Humor.
Hier, tief im Wald, zirpten unaufhörlich Zikaden. Die Pferdehälse wurden dunkel vom SchweiÃ, als die Steigung zunahm. Die Luft unter den groÃen Bäumen war feucht und still. Als sie das Gasthaus am Fuà der Stufen zum Tempel erreichten, war es fast Mittag. Sie stiegen ab, wuschen Hände und FüÃe, tranken Tee und aÃen eine Kleinigkeit. Shigeru zog sich um, er legte förmlichereKleidung an. Es war fast unerträglich schwül; der Himmel hatte sich verdunkelt, Wolken zogen im Westen auf. Irie wartete ungeduldig darauf, nach Yamagata zurückzukehren. Shigeru wies ihn an, sofort aufzubrechen.
Mehrere der Männer blieben mit den Pferden im Gasthaus. Sie würden das ganze Jahr über dort leben für den Fall, dass Shigeru sie brauchte. Die anderen ritten mit Irie zurück, zuerst nach Yamagata, dann, falls das Wetter es erlaubte, nach Hagi. Es blieb keine Zeit für lange Abschiede â schon drohte der Regen. Zwei Mönche waren aus dem Tempel gekommen, um Shigeru zu begrüÃen. Er schaute Irie und seinen Männern nach, als sie über den Bergpfad ritten und die Banner mit dem Reiher der Otori über dem letzten Pferd flatterten, dann folgte er den Mönchen die steilen Steintreppen hinauf. Nach ihm kamen Diener mit Körben und Kisten, die seine übrigen Kleider, Geschenke für den Tempel, Eijiros Aufzeichnungen und Schriftrollen aus Yamagata enthielten.
Die Mönche sprachen nicht mit ihm. Er war allein mit seinen Gedanken, einer Mischung aus Vorfreude und Befürchtungen: Er wusste, dass Training und Disziplin groÃe Anforderungen stellten, argwöhnte, beides würde ihm zu schwerfallen, er würde schlecht abschneiden
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