Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
oder versagen, schlieÃlich war ihm bewusst â vielleicht zu sehr â, wer er war, und er wollte weder seinem Vater noch dem eigenen Namen Schande bereiten. Er hatte nicht die Absicht, diese Bedenken mit irgendjemandem zu teilen, aber als er durch das Tempeltor kam, wo Matsuda im ersten Hof auf ihn wartete, spürte er, dass die durchdringenden Augen des Ãlteren in seinem Herzen lesen konnten.
»Willkommen, Lord Shigeru. Ich betrachte es als groÃe Ehre, dass Ihr Vater Sie meiner Fürsorge anvertraut. Ich werde Sie jetzt zum Abt bringen und Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«
Als sie aus ihren Sandalen auf die Bretter des Klosters traten, fügte Matsuda hinzu: »Sie sollen neben Ihren Studien mit mir das Leben eines Novizen führen. Deshalb werden Sie mit den Mönchen schlafen und essen, mit ihnen meditieren und beten. Solange Sie hier sind, werden Sie keine besonderen Privilegien genieÃen. Wenn Sie Ihre Selbstbeherrschung vervollkommnen wollen, dann ist es umso besser, je bescheidener Ihr Geist ist.«
Shigeru sagte nichts, er war nicht sicher, wie sich seine Bescheidenheit mit dem Wissen um seine Stellung als Erbe vereinbaren lassen würde. Er war nicht daran gewöhnt, andere als überlegen oder auch nur als seinesgleichen zu betrachten. Sein Rang war ihm seit seiner Geburt auf vielfältige Weise eingeprägt worden. Er hoffte, nicht arrogant zu sein â dass er nicht bescheiden war, wusste er.
Sie gingen an der Haupthalle vorbei, wo Lampen rund um die goldene Statue des Erleuchteten schienen. Weihrauch erfüllte die Luft, und Shigeru spürte die Anwesenheit vieler halb versteckter Mönche im Dunkel: Er fühlte die Kraft ihrer Konzentration und reagierte innerlich darauf, als wäre sein Geist berührt und geweckt worden.
»Ja, Ihr Vater hat es richtig beurteilt. Sie sind bereit«, murmelte Matsuda, und Shigerus Befürchtungen schwanden.
Der Abt war ein winziger, runzeliger Mann â Shigeru hatte noch nie einen so alten Menschen gesehen. Ermusste mindestens achtzig sein. Männer galten mit sechzehn als erwachsen, Frauen mit fünfzehn; das Alter von fünfundzwanzig bis dreiÃig wurde als Höhe des Lebens betrachtet, mit vierzig näherte man sich bereits dem Alter. Wenige lebten länger als sechzig Jahre; Matsuda musste fast fünfzig sein, so alt wie Shigerus Vater â aber neben dem Abt sah er aus wie ein junger Mann.
Der Alte wurde von Armlehnen gestützt, aber er saà noch aufrecht und hatte die Beine unter sich gekreuzt. Wie Matsuda trug er ein schlichtes Mönchsgewand, das aus Hanf gewebt und braun gefärbt war. Sein Kopf war rasiert. Um den Hals hatte er eine Gebetskette aus Elfenbeinperlen, an der ein silbernes Amulett mit einer merkwürdigen Gravur hing; darin befand sich, wie Shigeru wusste, ein Gebet, das in einem fernen Tempel auf dem Festland geschrieben worden war â möglicherweise in Tenjiku. Shigeru verbeugte sich vor dem Abt bis zum Boden. Der Alte sagte nichts, atmete nur tief aus.
»Setzen Sie sich auf«, murmelte Matsuda. »Der Lord Abt möchte Ihr Gesicht sehen.«
Shigeru richtete sich auf, den Blick sorgsam gesenkt, während die strahlenden schwarzen Augen des Abtes ihn forschend betrachteten. Der Alte schwieg immer noch.
Shigeru schaute auf und sah, dass er zweimal nickte. Dann schloss er die Augen.
Matsuda berührte Shigeru an der Schulter und beide senkten die Stirn zum Boden. Ein seltsamer Duft umgab den Alten, nicht der säuerliche Altersgeruch, den man hätte erwarten können, sondern ein süÃes, volles Aroma, das an ewiges Leben denken lieÃ. Und doch schien der Abt nur einen Atemzug vom Tod entfernt zu sein.
Matsuda bestätigte das, als sie gingen. »Der Lord Abt wird bald von uns scheiden. Er hat auf Ihre Ankunft gewartet. Er wollte seinen Rat zu Ihren Studien geben. Wenn das getan ist, steht es ihm frei, uns zu verlassen.«
»Spricht er jemals?«, fragte Shigeru.
»Nur noch sehr selten, aber diejenigen von uns, die ihm viele Jahre lang dienten, können sich dennoch mit ihm verständigen.«
»Ich nehme an, Lord Matsuda wird an seiner Stelle Abt werden?«
»Wenn der Tempel und der Clan es wünschen, kann ich nicht ablehnen«, antwortete Matsuda. »Aber jetzt bin ich ein einfacher Mönch, einer von vielen, nicht anders als die anderen, auÃer dass ich die Ehre habe, Ihr Lehrer zu sein.« Er lächelte
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