Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
strahlend, als er das sagte. »Ich freue mich darauf! Hier werden Sie schlafen.«
Der Raum war groà und leer, die dünnen Matten, auf denen die Mönche schliefen, waren zusammengefaltet und in den Schränken hinter Schiebetüren verstaut. Auf dem Boden lagen einige einfache Kleidungsstücke.
»Ihre eigenen Sachen werden für Sie aufbewahrt«, sagte Matsuda. Shigeru hatte sich zu Ehren des Abtes und des Tempels in seine feierlichsten Gewänder gekleidet. Jetzt legte er das pflaumenfarbene Kleidungsstück aus Seide ab, in das ein violettes Muster gewebt und der Otorireiher in Silber auf der Rückseite eingestickt waren; es wurde sorgfältig zusammengelegt und mit seinen anderen Sachen weggebracht. Dafür zog er das schlichte braune Gewand der Mönche an â der einzige Unterschied zwischen ihm und ihnen war jetzt sein ungeschnittenes Haar. Der Stoff, sauber, aber nicht neu, warrau, kratzte im Gegensatz zu der gewohnten Seide auf seiner Haut und roch ungewöhnlich.
Ãber ihnen ertönte ein Donnerschlag, ein paar Momente später das Geräusch von Regenfluten, die auf die Dächer schlugen und aus den Traufen schossen.
KAPITEL 9Â
Der Regen dauerte ohne Unterbrechung eine Woche lang. Jeden Tag erwartete Shigeru, dass sein Unterricht bei Matsuda beginnen würde, doch er sah weder den Ãlteren noch redete jemand mit ihm, auÃer, um ihn mit den anderen Novizen in den Lehren des Erleuchteten zu unterweisen. Die Mönche standen um Mitternacht auf, beteten und meditierten bis Tagesanbruch, aÃen die erste Mahlzeit des Tages â ein wenig gekochten Reis, mit Gerste vermischt â und widmeten sich dann den täglichen Pflichten im Tempel: fegen, waschen, der Arbeit im Garten und den Gemüsebeeten, auch wenn diese Tätigkeiten im Freien durch den Regen eingeschränkt wurden. Die Novizen verbrachten die ersten drei Stunden des Tages mit Lernen, dem Lesen heiliger Texte und bei den Erläuterungen ihres Lehrers. Sie aÃen erneut in der ersten Hälfte der Stunde des Pferdes, dann kehrten sie in die Haupthalle des Tempels zurück, beteten und meditierten.
Am späteren Nachmittag machten sie Ãbungen, durch die sie ihre Energie kontrollieren sowie Körper und GliedmaÃen stärken und geschmeidig erhalten sollten. Shigeru sah, dass die Ãbungen mit dem Schwertkampf verwandt waren â in der Haltung und den Bewegungen, doch nicht in ihrer Geschwindigkeit. Aber dieJungen hielten nie ein Schwert in der Hand. Die älteren Männer übten in dieser Zeit mit Holzstangen, deren Schläge und die plötzlichen Rufe unterbrachen die Stille des Tempels und verscheuchten die Tauben.
Shigeru hörte einen der Novizen flüstern, eines Tages würden auch sie Stangen benutzen dürfen, und er sehnte sich nach diesem Moment. Er machte die Ãbungen so eifrig wie die anderen, doch er konnte nicht feststellen, wie sie verbesserten, was er seiner Meinung nach bereits konnte. Wenn das körperliche Training vorbei war, aÃen sie wieder â Gemüse und ein wenig Suppe â, dann zogen sie sich in der Dämmerung für ein paar Stunden Schlaf bis Mitternacht zurück.
Die anderen Jungen, elf Jahre und älter, schienen ihn ehrfürchtig zu betrachten. Manchmal flüsterten sie miteinander und riskierten einen Tadel von ihren strengen Lehrern, aber keiner sprach mit ihm. Ihre Köpfe waren bereits rasiert, und falls sie nicht davonliefen, wie es bei Novizen gelegentlich vorkam, würde der Tempel für den Rest ihres Lebens ihre Heimat sein. Wohin wollte jemand, der davonlief? Sie konnten kaum zu ihren Familien zurück, weil sie Schande über sie brachten; von ihren Verwandten und dem Clan getrennt, konnten sie auch nicht in die Dienste anderer treten. Im besten Fall würden sie herrenlos, im schlimmsten Räuber oder Bettler. Aber die Jungen, denen Shigeru begegnete, schienen zufrieden mit ihrem Los. Sie studierten fleiÃig und beschwerten sich nicht. Einige von ihnen befreundeten sich eng mit älteren Mönchen, leisteten ihnen kleine Dienste, teilten möglicherweise ihre Betten und entwickelten sichere Bindungen aus Zuneigung und Treue.
Shigeru fragte sich, wie sie es ertragen konnten, ohne Frauen zu leben. Ihm war nicht klar gewesen, wie viel Zeit er damit verbracht hatte, die Mädchen im Schloss von Hagi zu beobachten, sich immer ihrer stillen Gegenwart bewusst gewesen war, ihrer
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