Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
leisen Schritte, ihres Dufts, während sie mit Tabletts vor ihm knieten und etwas anboten â Speisen, Schalen mit Tee, Weinflaschen. Dann wanderten seine Gedanken zu dem Mädchen, das sich ihm angeboten hatte, bis er glaubte, vor Sehnsucht nach ihr verrückt zu werden. Nachts schlief er schlecht, er war an die strenge Routine nicht gewöhnt und immer hungrig. Auch Kiyoshige fehlte ihm und er machte sich Sorgen um Takeshi â wer würde seinen Bruder davor bewahren, sich umzubringen, wenn er nicht da war?
Alle Jungen litten an Müdigkeit, ihre wachsenden Körper verlangten nach Schlaf. Am schlimmsten war es nach dem Mittagessen. Da saÃen sie mit gekreuzten Beinen auf harten schwarzen Kissen in der halbdunklen Halle, die stickig war und nach Weihrauch, Wachs und Ãl roch, und ihre Augen fielen ihnen zu. Oft ging der Priester, der die Meditation leitete, leise zwischen den sitzenden Gestalten hindurch und lieà die Hand mit plötzlicher Gewalt auf ein Ohr oder einen Nacken heruntersausen. Dann erwachte der schuldige Junge mit einem Ruck, seine Augen füllten sich mit Tränen und seine Wangen röteten sich.
Shigeru fürchtete sich davor, geschlagen zu werden, nicht aus Angst vor dem Schmerz, sondern wegen der Schande. Nie konnte er vergessen, dass er Erbe des Otoriclans war; seine Rolle und seine Stellung waren ihm eingeprägt worden, bevor er noch sprechen konnte. ImHaus seiner Mutter war er mit Schlägen für verschiedene kindliche Unarten bestraft worden, aber nach seinem Umzug ins Schloss hatte niemand die Hand gegen ihn erhoben. Niemand hätte das gewagt, selbst wenn es nötig gewesen wäre.
Er hatte die üblichen Unfälle eines Heranwachsenden erlitten: eine Gehirnerschütterung durch den Sturz von einem Pferd; einen gebrochenen Wangenknochen von einem Schlag beim Ãben, der eine Seite seines Gesichts violett gefärbt hatte; Prellungen und Narben â aus allem hatte er gelernt, Schmerz zu ignorieren. Als er schlieÃlich die Augen nicht mehr offen halten konnte und spürte, wie sein ganzer Körper dem Schlaf zu sank, war der Klaps vom Priester nicht fest, gerade genug, um ihn zu wecken; er tat nicht weh, aber er erzürnte ihn und löste eine solche Wut in ihm aus, dass er fürchtete, ohnmächtig zu werden, wenn er nicht sofort zurückschlug. Er ballte die Fäuste, biss die Zähne zusammen und kämpfte um Beherrschung, indem er versuchte, seine Gefühle mit den leidenschaftslosen Worten der Sutras zu unterdrücken und alles Streben, alles Begehren loszulassen â¦
Aber es war unmöglich. Obwohl er reglos dasaÃ, kochte in seinem Herzen der Zorn. Er war voll Begierde und Leidenschaft, voll Energie. Warum vergeudete er das alles an diesem tristen, leblosen Ort? Er musste hier nicht bleiben: Er verschwendete seine Zeit. Er erhielt noch nicht einmal den Unterricht, auf den er sich so erwartungsvoll gefreut hatte. Matsuda behandelte ihn mit Verachtung, genau wie alle im Tempel. Er konnte gehen, niemand würde ihn zurückhalten: Er war der Erbe desClans. Er konnte tun, was er wollte. Er musste seine Wünsche nicht beherrschen: Er konnte sie sich alle erfüllen â er hatte die Macht zu befehlen, was er wollte. Auf Wunsch seines Vaters war er hier, aber er sah seinen Vater mit plötzlicher Klarheit als einen schwachen, unentschlossenen Mann voller Selbstmitleid, der keinen Gehorsam verdiente. Ich würde den Clan besser leiten als er, ich würde die Habgier meiner Onkel nicht tolerieren; ich würde mich sofort mit den Tohan auseinandersetzen. Die Kitanosöhne wären jetzt nicht in Inuyama. Auf einmal war er davon überzeugt, dass seine Onkel an der Entscheidung beteiligt gewesen waren, ihn wegzuschicken, dass ihr Einfluss auf seinen Vater in seiner Abwesenheit gröÃer denn je war, dass sie in diesem Moment planten, die Macht über den Clan an sich zu reiÃen, während er hier in der Düsternis und im Regen verschimmelte. Der Gedanke war unerträglich.
Es war nicht nur möglich für ihn zu gehen â es war seine Pflicht.
Diese Gedanken beschäftigten ihn den Rest des Tages. In dieser Nacht lag er wach trotz seiner Müdigkeit und stellte sich die Frauen vor, die er sich in Yamagata bringen lassen würde, die heiÃen Bäder, die er nehmen, die Mahlzeiten, die er verspeisen würde. Am Morgen würde er aufbrechen, zu dem Gasthof hinuntergehen, wo seine
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