Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Harada?«
»Er gehörte zu Shigerus Gefolgsleuten«, antwortete Naomi. »Du hast nichts von ihm zu befürchten. Erkönnte eine Nachricht aus Hagi gebracht haben.« Ihre Hände zitterten an der zarten irdenen Teeschale und schickten winzige Kräuselwellen über die Teeoberfläche.
Sie rief Mari zu: »Ja, bring ihn sofort herein.«
Mari verneigte sich, ging und kam gleich darauf mit Harada zurück.
Naomi begrüÃte den Einäugigen herzlich. Er sah noch magerer aus, als verzehre ihn innerlich das Feuer seiner Ãberzeugung.
»Lady Maruyama, ich spüre, dass ich nach Hagi gehen und Lord Otori aufsuchen muss.«
»Was ist geschehen?«, fragte sie erschrocken.
»Ich habe seit Monaten nichts von Lord Otori gehört«, antwortete er. »Soweit ich weiÃ, geht es ihm gut. Aber ich habe das starke Gefühl, dass ich ihm etwas mitteilen sollte, das ich kürzlich erfahren habe.«
»Kannst du mir sagen, worum es geht?«
»Da ist ein Hausierer, der aus Inuyama kommt. Er war auch oft in Hagi. Er gehört zu den Verborgenen und bringt Neuigkeiten von unseren Leuten aus dem Osten und dem Mittleren Land. Im vorletzten Jahr ging er zum ersten Mal weiter als zuvor in die Berge â diesen Sommer wird er erneut dorthin gehen. Ihm ist die Bemerkung entschlüpft, dass dort ein Junge lebt, der wie ein Otori aussieht.«
Naomi starrte den Mann ratlos an. »Was meinst du?«
»Vielleicht ist es nichts Wichtiges. Ein unehelicher Sohn �«
»Von Lord Shigeru?«, fragte sie mit gepresster Stimme.
»Nein, nein, das möchte ich nicht andeuten. DerJunge muss fünfzehn oder sechzehn sein, fast erwachsen. Aber er stammt definitiv von den Otori ab.« Seine Stimme wurde immer leiser. »Ich mache zu viel daraus. Aber ich dachte, Lord Shigeru würde das gern wissen.«
Shizuka hatte still abseits gekniet. Jetzt sagte sie: »Lady Maruyama, darf ich diesem Mann eine Frage stellen?«
Dankbar für die Unterbrechung nickte Naomi. Er ist zu alt, um Shigerus Sohn zu sein, dachte sie halb erleichtert, halb enttäuscht. Aber vielleicht sind sie irgendwie verwandt.
»Hat der Händler noch etwas bemerkt?«, fragte Shizuka drängend. »Er spricht zweifellos von einer Ãhnlichkeit im Gesicht. Hat er die Hände des Jungen gesehen?«
Harada starrte sie an. »Das hat er tatsächlich.« Er schaute kurz zu Naomi hinüber. »Lady Maruyama?«
»Du kannst offen vor ihr sprechen«, sagte Naomi.
»Sie sind ihm aufgefallen, weil der Junge einer von uns ist, einer von den Verborgenen«, sagte Harada leise, »dennoch wollte er das Schwert halten. Er hatte eine Linie auf den Handflächen.«
»Wie ich?« Shizuka streckte ihm ihre Hände entgegen.
»Wahrscheinlich«, sagte Harada. »Der Hausierer mochte die Familie und jetzt macht er sich Sorgen um sie. So viele von uns sterben im Osten.«
Alle starrten Shizukas Hände an mit der geraden Linie, die jede Handfläche in zwei Hälften zu schneiden schien.
»Was bedeutet das?«, fragte Naomi.
»Es bedeutet, dass ich sofort nach Hagi reisen muss«,antwortete Shizuka, »wie gefährlich es auch sein mag, und Lord Shigeru informieren. Du brauchst nicht zu gehen«, sagte sie zu Harada. »Ich muss gehen! Ich muss ihm das sagen!«
Naomi kam der Gedanke, dass sie ihn mit diesem Jungen überraschen werde. Er kam ihr vor wie ein Geschenk, eine Entschädigung für das Kind, das sie hatte töten müssen. Sie sah darin die Hand Gottes. Das war die Botschaft, die Shizuka für sie überbringen musste. Verwundert und dankbar stand sie auf.
»Ja, du musst nach Hagi reisen und es Lord Otori erzählen. Du musst sofort aufbrechen.«
KAPITEL 46Â
Shigeru verbrachte seine Tage mit der Inspektion seines Gutes â die Sesampflanzung hatte sich tatsächlich als erfolgreich erwiesen â und seine Nächte mit der Einordnung der Informationen, die Shizuka ihm über den Stamm gegeben hatte. Chiyo hatte längst entschieden, dass die Besucherin eine Frau aus dem Freudenviertel sei, und stimmte von Herzen zu, während sie zugleich die nötige Heimlichtuerei besonders vor Shigerus Mutter bejahte. Sie sorgte dafür, dass Shigeru und Shizuka allein gelassen wurden.
Jahrelang hatte Shigeru viele verschiedene Leben geführt, die alle voneinander getrennt waren und vor einander geheim gehalten wurden. Er
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