Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
komme heute Abend wieder«, sagte sie. »Essen und trinken Sie nichts. Versuchen Sie sich auszuruhen. Heute Nacht werden Sie nicht schlafen und Schmerzen haben.«
Sie kam mit Kräutern zurück, aus denen sie einen bitteren Aufguss machte. Dann half sie Naomi, ihn zu trinken. Innerhalb von Stunden begannen die Krämpfe, gefolgt von groÃen Schmerzen und schweren Blutungen. Shizuka blieb die ganze Nacht bei Naomi, wischte ihr den Schweià vom Gesicht, wusch ihr das Blut ab und versicherte ihr, es werde bald vorüber sein.
»Sie werden andere Kinder haben«, flüsterte sie. »Wie ich.«
»Du hast das also auch durchgemacht«, sagte Naomi und lieà endlich die Tränen flieÃen, die Shizuka ebenso galten wie ihr selbst.
»Ja, bei meinem ersten Kind. Es war dem Stamm damals nicht recht, dass ich es bekam. Meine Tante gab mirebendieses Gebräu. Ich war sehr unglücklich. Aber wenn der Stamm mir das nicht angetan hätte, wäre ich nie so mutig gewesen, ihm zum Trotz Lord Shigeru zu helfen und Ihrer beider Geheimnis für mich zu behalten. Männer können sich der Ergebnisse ihrer Handlungen nicht sicher sein, weil sie das menschliche Herz nicht berücksichtigen.«
»Liebst du Lord Shigeru?«, hörte Naomi sich fragen. »Tust du deshalb so viel für uns?« Die Dunkelheit, die Intimität zwischen ihnen gab ihr den Mut zu dieser Frage.
Shizuka antwortete mit der gleichen Aufrichtigkeit. »Ich liebe ihn sehr, aber in diesem Leben werden wir nie zusammen sein. Dieses wunderbare Schicksal ist Ihnen bestimmt.«
»Es ist ein Schicksal, das mir auÃer Sorgen nur wenig gebracht hat«, sagte Naomi. »Aber ich möchte kein anderes haben.«
Gegen Morgen lieà der Schmerz nach und sie schlief ein wenig. Als sie erwachte, war Sachie im Raum und Shizuka wollte gehen. Beim Gedanken an ihren Abschied wurde Naomi ängstlich.
»Bleib ein bisschen länger! Verlass mich noch nicht!«
»Lady, ich kann nicht bleiben. Ich sollte gar nicht hier sein. Jemand wird es entdecken und es wird uns alle in Gefahr bringen.«
»Du wirst doch Lord Shigeru nichts hiervon erzählen?« Naomi begann zu weinen.
»Natürlich nicht! Es kann sowieso lange dauern, bis ich ihn wiedersehe. Sie sehen ihn vielleicht früher. Sie müssen ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Siehaben viele, die Sie lieben und sich um Sie kümmern werden.«
Als Naomi noch verzweifelter weinte, versuchte Shizuka sie zu trösten. »Wenn ich wieder nach Hagi gehe, werde ich zuerst hierherkommen. Dann können Sie ihm eine Botschaft schicken.«
Seit dem Tag, an dem sich Naomi wie in einem Traum neben Shigeru gelegt hatte, waren neun Wochen vergangen.
Das Leben des Kindes war schnell und leicht ausgelöscht worden. Naomi konnte noch nicht einmal offen für seine Seele beten, ebenso wenig konnte sie ihren Schmerz und ihren Zorn darüber ausdrücken, dass sie nicht frei mit dem Mann, den sie liebte, leben konnte. Sie wurde sehr niedergeschlagen, wie von einem düsteren Geist besessen, und sie bekam Zornausbrüche gegenüber ihrem Gefolge und ihren Dienstboten. Unter den Ãltesten wurde die Meinung laut, sie zeige die ganze Unvernünftigkeit einer Frau und sei vielleicht doch nicht geeignet, allein zu regieren. Sie begannen eine Heirat mit Iida oder einem von ihm Ausgewählten zu befürworten und erzürnten sie dadurch noch mehr.
Als der Sommer verging und das kühlere Herbstwetter einsetzte, hatte sie sich noch immer nicht ganz erholt und fürchtete den kommenden Winter. Sie hatte vorgehabt, wieder nach Inuyama zu reisen, doch sie wusste, dass sie nicht gesund genug war, Iida gegenüberzutreten und ihre Selbstbeherrschung zu wahren. Aber sie hatte Angst, ihn zu beleidigen und Mariko noch mehr zu enttäuschen.
»Mein Leben ist hoffnungslos«, sagte sie eines Abendsverzweifelt zu Sachie und deren Schwester Eriko. »Ich sollte es jetzt beenden.«
»Reden Sie doch nicht so«, bat Sachie. »Es wird besser werden, Sie werden wieder zu Kräften kommen.«
»An meiner Gesundheit liegt es nicht«, entgegnete Naomi. »Aber ich kann mich von dieser schrecklichen Dunkelheit nicht befreien, die auf meinem Geist liegt.« Sie flüsterte: »Wenn ich nur bekennen könnte, was â was geschehen ist â dann glaube ich, dass mir vergeben würde. Aber das kann ich nicht, und solange ich es nicht
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