Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
sehen war ihr fremd und kränkte sie. Aber der Glaube brachte ihr ein Gefühl von Vergebung und Vergebung brachte ihr Frieden.
Andere Konflikte schienen für sie unlösbar zu sein. Der Glaube verbot den Verborgenen, Leben zu nehmen, doch die einzige Möglichkeit, ihre Tochter zu befreien und nicht nur sich selbst Glück, sondern auch den Drei Ländern Frieden und Gerechtigkeit zu bringen, war, Iida zu töten. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit Shigeru über ein Attentat. Musste sie jetzt alle diese Pläne aufgeben und Iidas Bestrafung dem Geheimen überlassen, der alles sah und jeden nach dem Tod beurteilte?
Das Netz des Himmels ist unermesslich, doch jede seiner Maschen ist fein, sagte sie sich.
Sie dachte ständig an Shigeru, obwohl sie kaum Hoffnung auf ein Treffen oder eine Nachricht von ihm hatte. Dass sie so knapp der Entdeckung entgangen war, hatte sie alarmiert und erschreckt. Ein solches Risiko konnte sie nicht noch einmal auf sich nehmen. Doch sie sehnte sich immer noch nach ihm, liebte ihn immer noch sehr, wollte ihm von dem Kind erzählen und um seine Vergebung bitten. Sie schrieb ihm den ganzen Winter über Briefe, die sie mit Shizuka zu senden hoffte, dann aber zerriss und verbrannte.
Der Frühling kam. Der Schnee war geschmolzen, Boten, Händler und Hausierer begannen ihre Reisen durch die Drei Länder wiederaufzunehmen. Naomi hatte zum Glück nur wenig Zeit zum Grübeln, sie war sehrbeschäftigt. Sie musste die Kontrolle und Führerschaft ihres Clans wieder übernehmen, die ihr während ihrer Krankheit ein wenig entglitten war. Das Wetter war zu schlecht für Ausritte, aber es gab viele Sitzungen mit den Clanältesten, viele Entscheidungen, die getroffen werden mussten über Handel, Industrie, Bergbau und Landwirtschaft, Militär und Diplomatie.
Wenn sie Zeit hatte, zog sie sich nachmittags gern mit Sachie und Eriko zurück und bereitete ihnen Tee im Teehaus, das ihre GroÃmutter erbaut hatte. Das Ritual ähnelte immer mehr dem geteilten Mahl bei den Verborgenen. Gewöhnlich wurden sie von Mari bedient, sie brachte heiÃes Wasser und kleine Kuchen mit gesüÃten Kastanien oder Bohnenpaste und oft kam Harada Tomasu dazu und betete mit ihnen.
Eines Tages im fünften Monat wurde Naomi zu ihrer Freude Shizuka angekündigt und Mari führte sie in den Garten.
Shizuka trat ins Teehaus und kniete vor Naomi nieder, dann setzte sie sich auf und betrachtete aufmerksam das Gesicht der Regentin. »Lady Maruyama hat sich erholt«, sagte sie leise. »Und ihre ganze Schönheit wiedergewonnen.«
»Und du, Shizuka, ist es dir gut gegangen? Wo hast du den Winter verbracht?« Naomi fand Shizuka ungewöhnlich blass und bedrückt.
»Ich war den ganzen Winter in Noguchi bei Lord Arai. Ich dachte, ich könnte jetzt nach Hagi reisen, aber gerade ist etwas geschehen, direkt hier in Maruyama, das mich aufgeschreckt hat.«
»Kannst du mir sagen, was es ist?«
»Vielleicht ist es nichts. Manchmal bilde ich mir Dinge ein. Ich glaubte, meinen Onkel Kenji auf der StraÃe zu sehen. Nun, ich habe ihn nicht wirklich gesehen, ich habe ihn gerochen â er hat einen sehr eigenen Geruch â und dann wurde mir klar, dass er seine Stammesfähigkeit nutzt, um seine Anwesenheit zu verbergen. Er ging vor mir und gegen den Wind, deshalb glaube ich, er hat mich nicht gesehen. Aber es hat mich beunruhigt. Warum ist er hier? Er kommt selten so weit in den Westen. Ich fürchte, er beobachtet mich. Ich habe irgendwie seinen Verdacht geweckt. Ich sollte nicht nach Hagi gehen, denn dadurch würde ich meine Freundschaft mit Lord Shigeru verraten und wenn der Stamm die entdeckt â¦Â«
»Bitte, geh!«, bat Naomi. »Ich werde ihm jetzt schreiben. Ich beeile mich. Ich werde dich nicht aufhalten.«
»Ich sollte auch keine Briefe dabeihaben«, sagte Shizuka. »Es ist zu gefährlich. Sagen Sie mir Ihre Nachricht. Wenn ich es für unbedenklich halte â nicht nur für mich, für uns alle â, werde ich versuchen, Lord Shigeru vor dem Sommer zu sehen.«
»Sachie, bereite Tee für Shizuka, während ich ein paar Augenblicke überlege, was ich sagen will«, bat Naomi, doch bevor Sachie sich rühren konnte, rief Mari leise an der Tür:
»Lady Maruyama, Harada Tomasu hat Ihnen etwas zu sagen. Darf ich ihn herbringen?«
Shizuka flüsterte: »Wer ist
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