Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
entwickelte eine Vorliebe für das Rollenspiel, sein ganzes Leben bestand aus einer Reihe von Rollen, aus einem Spiel, das er bewusst mit Eleganz und Geschick betrieb. Die Tragödien seines Lebens hatten ihn abgehärtet â er hatte nicht weniger Mitgefühl für andere, aber gewiss keins für sich, und dieses Fehlen jeglicher Selbstsucht gab ihm eine gewisse Freiheit. In seinem Charakter war keine Spur von Selbstmitleid. Viele Leute wünschten ihm den Tod, doch er würde ihrer Niedertracht nicht erliegen, ihren Hass aber auch nicht annehmen. Er bejahte das Leben von Herzen und genoss alle seine Freuden. Man könnte sagen, das Schicksal habe ihm böse mitgespielt, doch er fühlte sich nicht wie ein Opfer des Schicksals. Er war vielmehr dankbar für sein Leben und alles, was er daraus gelernt hatte. Er erinnerte sich an Matsudas Worte nach der Niederlage: Sie werden lernen, was Sie zu einem Mann macht.
Es war eine schwerere Schlacht als Yaegahara gewesen, aber sie hatte nicht mit einer Niederlage geendet.
»Ich glaube, ich habe Ihren Kikutaneffen gefunden.« Shizuka wartete kaum ab, dass er sie begrüÃt oder in die Sicherheit des Hauses geführt hatte, bevor sie ihm die Neuigkeit zuflüsterte. Es war fast das Ende des sechsten Monats, er hatte keine Besucher während der Regenzeit erwartet, doch jetzt, wo der Niederschlag fast vorüber war, hatte er täglich gehofft, dass sie kommen werde.
»Du warst so lange nicht da!« Er staunte über seine Freude, sie zu sehen, staunte über ihre Worte. Sie zitterte vor Erregung.
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, fuhr er fort. »Ich habe so lange nichts von dir gehört und auch Kenji dieses Jahr noch nicht gesehen.«
»Lord Shigeru, ich glaube nicht, dass ich noch einmal kommen kann. Ich fürchte, ich werde beobachtet. Jetzt bin ich nur da, weil diese Neuigkeit so wichtig ist. Und weil ich in Maruyama gewesen bin.«
»Geht es ihr gut?«
»Jetzt schon, aber im vergangenen Jahr ⦠nach Ihrem Treffen in Terayama â¦Â«
Sie brauchte es ihm nicht zu erklären. Das war, was er bei jedem Treffen gefürchtet hatte.
»Nein!« Er spürte, wie sich der Schweià auf seiner Stirn sammelte. Kleine Punkte tanzten ihm vor den Augen. Er hörte Shizuka wie aus weiter Ferne sprechen.
»Sie bittet Sie, ihr zu vergeben.«
»Ich sollte sie um Vergebung bitten! Die ganze Schwierigkeit der Entscheidung, das Leiden musste sie ertragen! Ich wusste noch nicht einmal davon!« Ein Zorn durchfuhr ihn, wie er ihn seit Jahren nicht erlebt hatte. »Ich muss Iida töten«, sagte er, »oder selbst sterben. So können wir nicht weiterleben.«
»Deshalb bin ich gekommen, um Ihnen von diesem Jungen zu erzählen. Ich glaube, er ist Ihr Neffe und Isamus Sohn.«
Shigeru fragte: »Wer ist Isamu?«
»Ich habe Ihnen von ihm erzählt. Seine Mutter arbeitete im Schloss von Hagi, als Ihr Vater jung war. Sie muss die Geliebte Ihres Vaters gewesen sein. Sie wurde mit einem Kikutacousin verheiratet. Isamu, der im ersten Ehejahr geboren wurde, entwickelte unglaubliche Stammesfähigkeiten, aber er verlieà den Stamm. Das geschieht nie. Und dann starb er, aber niemand sagte, warum. Ich glaube, der Stamm hat ihn getötet â das ist die übliche Strafe für Ungehorsam.«
»Das wäre auch die Strafe für dich.« Wieder staunte Shigeru über ihre Furchtlosigkeit.
»Wenn sie es je herausfinden! Deshalb kann ich nicht mehr zu Ihnen kommen. Ich glaube sowieso nicht, dass ich Ihnen viel mehr erzählen kann. Sie haben jetzt Ihre Aufzeichnungen. Sie wissen mehr über den Stamm, als je ein AuÃenstehender gewusst hat. Aber jetzt ist dieser Junge unter den Verborgenen im Osten aufgetaucht.Das Dorf heiÃt Mino. Er sieht aus wie ein Otori und hat Kikutahände. Er muss Isamus Sohn sein.«
»Er ist mein Neffe!«, sagte Shigeru erregt. »Ich kann ihn nicht dort lassen!«
»Nein, Sie müssen gehen und ihn holen. Wenn der Stamm von ihm erfährt, werden sie bestimmt versuchen, ihn für sich zu gewinnen, und wenn das nicht gelingt, wird er wahrscheinlich von Iida umgebracht werden, der entschlossen ist, die Verborgenen in seinen Domänen auszulöschen.«
Shigeru erinnerte sich an die gefolterten Männer und Kinder, die er mit eigenen Augen gesehen hatte, und seine Haut prickelte vor Entsetzen.
»Und wer weiÃ, er
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