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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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packten ihre wenigen Sachen zusammen und Shigeru fegte die Hütte zum letzten Mal aus. Vor dem Morgengrauen standen sie auf. Der Tanuki saß auf der Veranda und beobachtete sie aus runden, wachsamen Augen. Matsuda verbeugte sich vor ihm.
    Â»Leb wohl, alter Freund. Danke, dass du dein Heim mit uns geteilt hast. Es gehört wieder dir.«
    Der Mond war untergegangen, doch Matsuda ging den Pfad entlang, als läge er im hellen Sonnenlicht. Shigeru trug die Holzstangen und die Bündel, wie er es beim Herkommen getan hatte. Er verließ die abgelegene Hütte mit Bedauern, aber er wusste, dass die Arbeit, die sie sich hier vorgenommen hatten, getan war und dass er viel gelernt hatte. Der Tag graute, als sie unter der großen Eiche vorbeigingen, wo Shigeru den Houou gesehen hatte, und er schaute im gewölbten Blätterdach wieder nach ihm aus. Matsuda hatte die Feder aufbewahrt und trug sie jetzt in den Brustfalten seines Gewands. Doch von dem heiligen Vogel gab es keine Spur. Ich werde ihn wiedersehen , dachte Shigeru. Ich werde einen Platz schaffen, wo er wohnen kann. Er wird ins Mittlere Land zurückkehren.
    Vor Mittag erreichten sie den Tempel. Sobald sie den ersten Hof betraten, merkte Shigeru, dass etwas Schlimmes geschehen war. Eine feierliche Stille lag über dem ganzen Anwesen, die so ganz anders als die alltägliche Atmosphäre war und nur von einem monotonen Gesang aus der Haupthalle unterbrochen wurde. Er erkannte die Worte eines der Sutras für die Toten.
    Â»Es ist, wie ich dachte«, sagte Matsuda ruhig. »Unser Abt ist gestorben.«
    Danach sah Shigeru Matsuda nur sehr selten. Der Abt wurde beerdigt und nach der Trauerzeit wurde Matsuda, wie alle es erwartet hatten, der neue Abt. Shigeru nahm wieder seinen Platz zwischen den anderen Novizen ein und verfolgte die gleiche Routine wie zuvor, doch mit größerem Eifer und mehr Selbstdisziplin. Er hatte die gleichen Befürchtungen über das, was in der Welt außerhalb von Terayama vor sich ging – das Vorgehen der Tohan, die Reaktion seines eigenen Clans –, aber er schob sie zur Seite und widmete sich der Meditation, den Übungen und dem Studium. Er packte die Rollen aus, die er von Eijiro und aus Yamagata mitgebracht hatte, und lernte ihren Inhalt auswendig. Er sah, dass die vor ihm liegende Arbeit ungeheuer sein würde und er all seine Energie, Intelligenz und Kraft einsetzen müsste, um sie zu bewältigen. Er arbeitete mit Hilfe seiner Lehrer daran, seine natürlichen Fähigkeiten zu entwickeln und seine Schwächen zu zügeln. Er lernte, seine körperlichen Bedürfnisse nach Schlaf und Nahrung zu beherrschen, seine Gefühle und Gedanken zu meistern.
    Auf die Sommerhitze folgte der Herbstbeginn. Dannkam die Tagundnachtgleiche; Herbstlilien blühten am Rand der Reisfelder. Die Stürme des Spätsommers flauten ab; die Blätter färbten sich rot und golden; Kastanien reiften im Wald und Dattelpflaumen in den Gärten. Die Bauern schienen endlos auf den Feldern zu arbeiten und Reis, Bohnen und Gemüse zu ernten, die sie im Winter ernähren würden. In der Luft hallte das Echo von Dreschflegeln, die Körner von den Schalen trennten, das dumpfe Häckseln von Bohnenstroh und das Enthülsen, bei dem Bohnen mit einem Geräusch wie Hagelprasseln in Körbe und Eimer fielen.
    Eines Tages, plötzlich, wie es schien, war die Arbeit getan. Die Felder waren leer und braun, Nebel hing um die Berge und die ersten Fröste härteten das Bambusgras und färbten es weiß. Die luftigen Räume des Tempels, die im Sommer kühl gewesen waren, wurden eisig, als der kalte Herbstwind wehte. Der Jahreswechsel kam, Schnee fiel und schnitt den Tempel von der Welt draußen ab.

KAPITEL 13 

    Der letzte Stein war an seinen Platz gefügt und Akane konnte das Gesicht ihres Vaters nicht länger sehen. Der Stein glitt perfekt hinein, seine sorgfältig behauenen Kanten passten nahtlos zwischen die Steine zu beiden Seiten. Akane stand am Nordende der Brücke. Eine riesige Menschenmenge war hinter ihr, doch die Leute hatten Platz um sie herum gelassen, sie wollten sie zwar sehen, aber sich ihr in ihrem Leid nicht nähern – oder ihr gar so nahe kommen, dass sie sich mit dem Fluch ansteckten, der auf ihrer Familie zu liegen schien.
    Ein Keuchen kam aus der Menge, ein gemeinsames Luftholen. Die Männer, die den Stein hineingeschoben hatten – Wataru,

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