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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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die rechte Hand des Steinmetzen, und Naizo, der Lehrling –, standen mit weißen, angespannten Gesichtern da. In Watarus Augen glänzten Tränen. Akane sah, wie die Muskeln in Naizos Hals immer noch vor Anstrengung zuckten, sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse von Angst und Mitleid. Die Steinmetze gingen rückwärts, bis sie nicht mehr auf der Brücke standen. Akanes Vater blieb allein zurück, das einzige Lebewesen, in Stein lebendig begraben.
    Der Stein würde nie entfernt werden. Ihr Vater war dahinter im Dunkeln. Nie mehr würde er Tageslicht sehen, nie mehr den Frühlingswind auf dem Gesicht spüren oder sehen, wie die Kirschblüten auf die grünen Fluten des Flusses hinabschwebten und mit der Strömung fortgetragen wurden. Ob er mit der gleichen Ruhe dasaß, die er bisher gezeigt hatte, während sich die Luft langsam erschöpfte? Oder würde er jetzt, wo niemand seine Scham und Verzweiflung sehen konnte, in Panik geraten?
    Akane hatte ihr Leben lang am Fluss gewohnt. Mori Yuta war nicht der Erste gewesen, den sie hatte ertrinken sehen. Sie wusste, wie Hände griffen und klammerten und um Rettung rangen. Taten das jetzt die Hände ihres Vaters? Suchten sie nach Ritzen zwischen den Steinen, von denen er wusste, dass sie perfekt passten, seine starken, biegsamen Hände, die seine Begabung enthielten, die Hände, die sie so gut kannte und so oft beobachtet hatte, wie sie Breitbeil und Meißel hielten oder sich abends um eine Teeschale legten, wenn der Steinstaub immer noch in den Linien um Knöchel und Handgelenke oder in den Handflächen eingegraben war. Ihr Vater roch nach Staub und sah beim Heimkommen am Abend manchmal aus, als wäre er selbst aus Stein gehauen, grau von Kopf bis Fuß. Er war bewundert und respektiert worden, hatte wunderbare Konstruktionen erbaut, doch die Besessenheit mit der Brücke hatte das alles zerstört. Er vernachlässigte seine Familie. Seine Frau bekam keine Kinder mehr – die Nachbarn witzelten spöttisch, sie müsste schon einen Körper aus Stein haben, um ihrem Mann zu gefallen. Die einzige Tochter war sich selbst überlassen, ein mageres, merkwürdiges Kind, das schwimmen konnte wie ein Kormoran und mit einem Boot umging wie ein Mann. Als sie vierzehnwurde, hielt keine einzige Familie sie für die Heirat mit ihrem Sohn geeignet, auch wenn die Söhne selbst nichts gegen ihren Körper, ihren schlanken Hals und die schmalen Gelenke und gegen ihre schön geformten Augen hatten. Aber die Familie des Steinmetzen war offensichtlich tief unglücklich, wenn nicht gar verflucht, und Akane hatte etwas Kühnes an sich, das künftige Schwiegermütter vertrieb. Für alle außer ihrem Vater war klar, dass das Mädchen Prostituierte werden würde. Selbst als Kind habe man es ihr schon angesehen, wurde vielsagend behauptet.
    Aber von bösen Schwiegermüttern eingeschüchterte Mädchen, nicht viel älter als Akane, aber bereits verheiratet, beneideten sie insgeheim, denn sie konnten sich kein schlimmeres Leben vorstellen als ihre eigene Schinderei.
    Akane hatte gehört, wie der Bordellbesitzer zu ihrem Vater kam und Pläne für ihre Zukunft diskutierte. Ihr Vater war über den Vorschlag des Mannes entsetzt. Akane selbst war noch mehr von dem niedrigen Preis entsetzt, der angeboten wurde. Sie ging sofort zu einem Konkurrenzunternehmen, das einer Witwe gehörte, und handelte mehr als das Doppelte aus, von dem sie die Hälfte ihren Eltern gab und die Hälfte für sich behielt. Ihre Eltern waren gerührt von dieser Entschiedenheit und der Anhänglichkeit ihrer Tochter und erleichtert, dass sie ihnen nicht zur Last fallen würde, sondern sie im Alter unterstützen könnte – besonders die Mutter, da die Besessenheit des Vaters höchstwahrscheinlich nur zu Armut führte. Und die Mutter hoffte, dass Akane im Laufe der Zeit einen beständigen Beschützer gewinnen würde, der möglicherweise sogar Kinder mit ihr haben wollte.
    Denn dass es keine Enkel geben würde, war die größte Enttäuschung der Eltern bei Akanes zukünftigem Leben. Alle ihre Aufmerksamkeiten, ihr pflichtbewusstes Verhalten konnten über diese Tatsache nicht hinwegtrösten. Die Familie des Steinmetzen würde aussterben, er hatte weder Söhne noch Neffen und jetzt auch keine Enkelsöhne, die sein Grab pflegen und für seinen Geist beten

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