Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
tot?«
»Er hatte viel Mut.« Das war der einzige Trost, den Shigeru geben konnte.
»Sie hatten alle Mut«, antwortete Nesutoro. »Niemand hat widerrufen, niemand hat den Geheimen verleugnet. Jetzt sitzen alle zu seinen FüÃen im Paradies, im Land der Gesegneten.« Er sprach unter Keuchen, seine Stimme war heiser. »Vergangene Nacht haben die Tohan ein groÃes Feuer vor dem Schrein angezündet. Sie verhöhnten uns und sagten: âºSeht, wo das Licht im Osten hervorbricht. Euer Gott kommt, um euch zu retten!â¹Â« Jetzt schossen ihm Tränen in die Augen. »Wir haben es geglaubt. Wir dachten, er würde unser Leid und unsere innere Stärke sehen und zu uns kommen. Und wir haben uns nicht völlig geirrt, denn er schickte Sie.«
»Zu spät, fürchte ich.«
»Wir dürfen Gottes Wege nicht in Frage stellen. Lord Otori, Sie haben mein Leben gerettet. Ich würde es Ihnen widmen, doch es gehört bereits ihm.«
Es lag etwas in seiner Formulierung, ein Versuch, humorvoll zu sein, der Shigeru guttat, ihn fast tröstete. Er empfand eine instinktive Achtung für diesen Mann, eine Anerkennung seiner Intelligenz und seines Charakters. Zugleich beunruhigten ihn die Worte. Er verstand nicht ganz, was der Mann meinte.
Es war fast dunkel, als Harada zurückkehrte, seine Männer trugen Fackeln, die flackerten und rauchten und die Finsternis herbeizurufen schienen. Das Dorf, aus dem die Verborgenen stammten, lag nicht weit entfernt. Einige Häuser boten immer noch Zuflucht, auch wenn die meisten beim Angriff der Tohan zerstört worden waren. Viele Einwohner waren entkommen, sie waren davongelaufen, hatten sich versteckt und kamen zurück, als sie das Otoriwappen sahen. Eine behelfsmäÃige Bahre wurde für den Verletzten gemacht und zwei Männer trugen ihn zu FuÃ, während die anderen ritten, ihre Pferde und drei andere führten, deren Besitzer beim Zusammenstoà mit den Tohan ums Leben gekommen waren. Ein schmaler steiniger Weg führte vom Hügel an den bestellten Feldern entlang, er folgte dem Bach. Das Wasser murmelte und funkelte im Fackellicht, Frösche quakten im Schilf. Die Luft des Frühsommerabends war weich und mild,doch Shigeru war in finsterer Stimmung, als sie sich dem Dorf näherten, und der Anblick der Zerstörung dort erzürnte ihn noch mehr. Die Tohan hatten die Grenze überschritten und waren tief ins Otoriland eingedrungen. Sie hatten Menschen gefoltert, die ungeachtet ihres Glaubens zu den Otori gehörten und von ihrem eigenen Clan nicht geschützt worden waren. Shigeru bedauerte, dass er nicht früher gehandelt hatte, dass diese Angriffe nicht schon zuvor bestraft worden waren. Wenn die Otori nicht so schwach und unentschieden gewirkt hätten, wären die Tohan nie so kühn geworden. Er wusste, es war richtig gewesen zu kommen und auch, sich in dem kurzen Gefecht zu engagieren, doch ihm war ebenso klar, dass der Tod der Tohankrieger, besonders der von Honda und Maeda, die Familie Iida erzürnen und die Beziehungen zwischen den beiden Clans weiter verschlechtern würde.
Trauer und Sorge hingen über dem Dorf. Frauen weinten, als sie Wasser brachten und Nahrung zubereiteten. Fünfzehn Menschen ihrer Gemeinde waren gestorben â es musste fast die Hälfte der Bewohner sein, Nachbarn, Freunde, Angehörige.
Shigeru und seine Männer wurden behelfsmäÃig in dem kleinen Schrein des Dorfes untergebracht, sie saÃen unter den geschnitzten Statuen und Votivbildern. Die Rüstungen der toten Tohan wurden dem Schrein übergeben. Die Frau des Priesters brachte Wasser zum FüÃewaschen, dann Tee aus gerösteter Gerste. Bei seinem beiÃenden Geruch merkte Shigeru, wie hungrig er war. Es sah nicht so aus, als gäbe es viel zu essen, also versuchte er alle Gedanken daran zu verdrängen. Die Dankbarkeitder Dorfbewohner, die Wärme ihres Empfangs mitten im Leid vergröÃerten nur sein Unbehagen, auch wenn er sich das nicht anmerken lieÃ, während er ausdruckslos den Bericht des vor ihm knienden Dorfältesten anhörte.
»Jedes Dorf von hier bis Chigawa ist angegriffen worden«, sagte der Mann bitter. Er war etwa dreiÃig, blind auf einem Auge, doch sonst gesund und kräftig. »Die Tohan verhalten sich, als wäre das schon ihr Land, sie ziehen Steuern ein, nehmen, was ihnen gefällt, und versuchen die Verborgenen auszurotten, wie sie es in
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