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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Grenzen vernünftig überwacht und geschützt.«
    Sie kamen zu dem kleinen Haus des Dorfältesten. Es hatte einen Lehmboden mit einer kleinen erhöhten, mit Matten bedeckten Schlafstelle. Hier lag Nesutoro, eine Frau kniete neben ihm. Als sie die Besucher sah, verbeugte sie sich bis zum Boden und verharrte so, bis ihr Mann leise etwas zu ihr sagte. Dann erhob sie sich und brachte ihnen Kissen, die sie auf die Stufe neben den Verletzten legte. Sie half ihrem Bruder beim Aufsitzen und lehnte seinen Kopf an ihren Körper, um ihn zu stützen. In dem trüben Lampenlicht war ihr Gesicht verhärmt, von Kummer und Tränen gezeichnet, doch Shigeru sah, wie sehr sie ihrem Bruder glich mit den betonten Wangenknochen und den fast dreieckigen Augen.
    Nesutoros Augen glühten wie Kohlen vor Fieber und Schmerz, aber die scharfen Züge hellten sich beim Anblick von Shigeru zu einem Lächeln auf.
    Â»Kannst du ein wenig sprechen?«
    Der Mann nickte.
    Â»Ich interessiere mich für deinen Glauben und möchte mehr darüber wissen.«
    Nesutoro sah besorgt aus. Seine Schwester wischte ihm den Schweiß vom Gesicht.
    Â»Antworte Lord Otori«, bat der Dorfälteste, dann fügte er entschuldigend hinzu: »Sie sind so daran gewöhnt, alles geheim zu halten.«
    Â»Von mir ist keine Gefahr zu befürchten«, sagte Shigeru ungeduldig. »Aber wenn ich euch vor den Tohan schützen soll, muss ich wissen, wen ich verteidige. Im Morgengrauen reite ich weg von hier. Du kannst nicht mit mir reisen. Also müssen wir jetzt reden, wenn du kannst.«
    Â»Was möchte Lord Otori wissen?«
    Â»Zuerst, welche Bilder musstet ihr schänden?«
    Die Frau stieß einen leisen Laut aus, als würde sie gleich schluchzen.
    Nesutoro bewegte die Hand und zeichnete zwei sich kreuzende Linien auf die Matte.
    Â»Was bedeutet das?«
    Â»Wir glauben, dass der Geheime seinen Sohn auf die Erde geschickt hat. Dieser Sohn wurde von einer gewöhnlichen Frau geboren und lebte als Mensch. Er wurde auf die grausamste Art hingerichtet, an ein Kreuz genagelt, aber er kam zurück von den Toten und sitzt jetzt im Himmel. Er wird über uns alle nach unserem Tod richten. Wer ihn kennt und an ihn glaubt, wird zu ihm in den Himmel kommen.«
    Â»Alle anderen fahren zur Hölle«, sagte der Dorfälteste, es klang bemerkenswert fröhlich. Seine Frau weinte jetzt leise.
    Â»Woher kommen diese Lehren?«, fragte Shigeru.
    Â»Aus dem fernen Westen. Unser Gründer, der Heilige, dessen Namen ich trage, brachte sie vor mehr als tausend Jahren von Tenjiku nach Shin, und von dort kamen Lehrer vor Hunderten von Jahren zu den Acht Inseln.«
    Für Shigeru hörte sich das wie jede andere Legende an, vielleicht auf Wahrheit gegründet, doch im Lauf der Jahrhunderte von menschlicher Phantasie, Wunschdenken und Selbsttäuschung überlagert.
    Â»Sie denken vielleicht, wir sind verrückt.« Schweiß lief Nesutoro übers Gesicht. »Aber wir erkennen die Gegenwart unseres Gottes, er lebt in uns …«
    Â»Sie haben eine rituelle Mahlzeit«, erklärte derDorfälteste. »Dabei teilen sie Brot und Wein und sie glauben, sie essen ihren Gott.« Er lachte, als wollte er zeigen, dass er mit so fremdartigen Ansichten nichts zu tun hatte.
    Plötzlich sagte die Frau: »Er hat sich für uns geopfert. Er litt, damit wir leben. Jeder, alle – selbst ich, eine Frau. In seinen Augen bin ich so gut wie ein Mann, wie mein Ehegatte, sogar wie …«
    Ihr Mann schlug mit der Faust auf die Matte. »Sei still!« Er verbeugte sich tief vor Shigeru. »Vergeben Sie ihr, Lord Otori, ihr großes Leid ist schuld daran, sie ist außer sich.«
    Shigeru war erstaunt über ihre Worte und ebenso darüber, dass sie es gewagt hatte, überhaupt in seiner Gegenwart zu sprechen. Nach seiner Erinnerung hatte ihn noch nie eine Bauersfrau direkt angesprochen. Er war irritiert und fasziniert zugleich, spürte, wie Kiyoshige neben ihm sich anspannte, und hob die Hand, um den Jüngeren zurückzuhalten. Er fürchtete, Kiyoshige könne sein Schwert ziehen und sie erschlagen – anderswo wäre die Frau sofort für ihre Respektlosigkeit bestraft worden, aber hier in dem kahlen, armseligen Haus neben dem leidenden Mann kam es ihm vor, als wären sie in einer anderen Welt, wo der starre Ehrenkodex seiner Gesellschaft nicht länger galt. In ihm regte sich

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