Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Iidas eigenem Land tun.«
»Schon?« , fragte Shigeru.
»Verzeihen Sie mir, Lord Otori, ich sollte nicht so freiheraus sprechen, aber höfliche Lügen helfen niemandem. Alle fürchten die Iida, sie werden das Mittlere Land angreifen, sobald sie den Osten vereint haben. Das muss auch in Hagi bekannt sein. Seit Monaten fragen wir uns, warum keine Hilfe kommt, ob wir von unseren eigenen Lords den Tohan übergeben worden sind.«
»Zu welcher Domäne gehört ihr?«
»Zu Tsuwano; alljährlich schicken wir Reis, aber wir sind so weit entfernt â nur Sie und Ihr Vater können uns retten. Hilfe muss direkt aus Hagi kommen. Wir dachten, Sie hätten uns vergessen. Und überhaupt sind Lord Kitanos Söhne in Inuyama.«
»Das weià ich.« Mühsam beherrschte Shigeru seinen Zorn. Kitanos unüberlegte Entscheidung, seine Söhne in die Hauptstadt der Tohan zu schicken, hatte sich als verhängnisvolle Schwäche für die Otori erwiesen. Die Jungen waren in jeder Hinsicht Geiseln, auch wenn sie nicht so genannt wurden. Kein Wunder, dass ihr Vateran der Ostgrenze nicht eingriff. Shigeru fürchtete, seine früheren Gefährten würden für seinen Angriff mit dem Leben bezahlen, doch das war nicht sein Fehler. Es war die Entscheidung ihres Vaters gewesen, sie wegzuschicken, eine Entscheidung, die Shigeru schon fast als Verrat betrachtete. Wenn sie zum Tod seiner Söhne führte, war das nicht mehr als gerecht.
»Wenn diese Sekte aus dem Osten geflohen ist, dann sollte sie dorthin zurückkehren«, sagte Kiyoshige, denn niemandem war erlaubt, das eigene Land einfach zu verlassen.
»Es stimmt, dass einige Verborgene aus dem Osten sind«, entgegnete der Dorfälteste. »Aber die meisten haben immer im Mittleren Land gewohnt und gehören zum Otoriclan. Die Tohan verbreiten Lügen über sie wie über alles andere.«
»Leben sie friedlich unter euch?«
»Ja, und das haben sie seit Jahrhunderten getan. ÃuÃerlich verhalten sie sich so wie wir. Deshalb werden sie die Verborgenen genannt. Aber es gibt natürlich Unterschiede: Wir beten viele Götter an und verehren sie alle; wir wissen, dass die Gnade des Erleuchteten uns rettet. Sie verehren nur einen, den sie den Geheimen nennen, und sie töten nicht, weder sich noch andere.«
»Doch sie scheinen mutig zu sein«, bemerkte Kiyoshige.
Der Dorfälteste nickte zustimmend. Shigeru spürte, der Mann hatte noch mehr zu sagen, doch etwas hielt ihn zurück, eine andere Bindung oder Treue.
»Kennst du den Mann, der überlebt hat, Nesutoro?«
»Natürlich. Wir sind zusammen aufgewachsen.«Nach einer Pause schluckte er schwer und sagte: »Meine Frau ist seine Schwester.«
»Gehörst du zu ihnen?«, rief Kiyoshige.
»Nein, Lord. Ich war nie gläubig. Wie denn? Aus meiner Familie kommen seit Generationen die Dorfältesten. Wir sind immer den Lehren des Erleuchteten gefolgt und wir verehren die Götter des Waldes, des Flusses und der Ernte. Meine Frau tut das Gleiche, aber in ihrem Herzen verehrt sie insgeheim den Geheimen. Ich habe ihr verboten, dies öffentlich zu bekennen wie jene, die jetzt gestorben sind. Sie musste auf ihre heiligen Bilder treten â¦Â«
»Wen zeigen sie?«, fragte Shigeru.
Der Mann rutschte verlegen hin und her und starrte auf den Boden. »Es ist nicht an mir, das zu sagen«, meinte er schlieÃlich. »Sprechen Sie mit Nesutoro. Er wird wissen, ob er es Ihnen anvertrauen kann oder nicht.«
»Du hast also deiner Frau das Leben gerettet?« Bisher hatte Irie nur schweigend beobachtet und aufmerksam zugehört.
»Sie lebt und unsere Kinder auch, aber sie ist mir nicht dankbar dafür. Sie hat mir gehorcht, wie eine Frau es sollte, doch sie glaubt, dass sie die Lehren ihres Gottes nicht befolgt hat. Die Getöteten sind zu Märtyrern, Heiligen, geworden und leben im Paradies. Sie fürchtet, sie wird in die Hölle geworfen.«
»Aus diesem Grund hassen die Tohan die Sekte so sehr«, sagte Irie später, nachdem der Dorfälteste entlassen worden war und sie ihr karges Mahl gegessen hatten. »Frauen sollten ihren Ehemännern gehorchen, Vasallenihren Herren, doch diese Leute halten einem anderen die Treue â einer unsichtbaren Macht.«
»Unsichtbar und nicht vorhanden«, sagte Kiyoshige kurz.
»Und doch haben wir greifbare Beweise für die Stärke ihres
Weitere Kostenlose Bücher