Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Glaubens gesehen«, bemerkte Shigeru.
»Beweise für den Glauben, nicht für die Existenz des Gottes.«
»Welchen Beweis gibt es für die Existenz von Geistern?«, fragte Shigeru, doch dann fiel ihm ein, wie er selbst einen Fuchsgeist gesehen â und mit ihm geredet â hatte, der nach Wunsch erscheinen und verschwinden konnte.
Kiyoshige grinste. »Es ist besser, nicht zu genau zu fragen. Die Mönche und Priester könnten einen jahrelang mit ihren Erklärungen beschäftigen.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte Irie. »Religiöse Praktiken sollten die Gesellschaftsstruktur stützen â und sie nicht zertrümmern.«
»Also.« Shigeru streckte die Beine aus, dann kreuzte er sie und wechselte das Thema. »Von morgen an reiten wir die Grenze entlang, von Meer zu Meer. Wir müssen das ganze Ausmaà der Tohaneinfälle kennenlernen. Wir haben noch neun Wochen â vielleicht drei Monate â vor den ersten Taifunen.«
»Wir haben zu wenig Männer für eine lange Erkundung«, sagte Irie. »Und die Tohan werden diese neue Niederlage rächen wollen.«
»Ich schreibe heute Abend nach Yamagata und Kushimoto. Sie können jeweils zweihundert Männer schicken. Du und Kiyoshige, ihr könnt mit der Hälftevon ihnen nach Norden reiten. Ich reite mit den anderen nach Süden.«
»Ich sollte Lord Shigeru begleiten«, widersprach Irie. »Und, verzeihen Sie, Lord Kiyoshige ist zu jung, um einen solchen Auftrag zu übernehmen.«
»Das ist Ansichtssache«, murmelte Kiyoshige.
Shigeru lächelte. »Kiyoshige und wir anderen auch brauchen alle Erfahrungen, die wir bekommen können. Deshalb wirst du mit ihm gehen. Wir ziehen nicht in eine groÃe Schlacht, wir zeigen den Iida nur, dass wir die Ãbergriffe an unseren Grenzen nicht länger dulden. Aber ich erwarte ohne Weiteres, dass uns diese Gefechte in einen umfassenden Krieg führen werden. Ihr könnt in Chigawa auf die zusätzlichen Männer warten. Wir werden morgen zusammen dorthin reiten. Ich schicke heute Nacht Harada mit den Briefen weg. Und dann möchte ich mit dem Mann reden, den wir gerettet haben.«
Wie immer hatte Shigeru Schreibsachen und sein Siegel in der Satteltasche mitgebracht, jetzt bat er um weitere Lampen und Wasser für den Tuschstein. Er mischte die Tusche und schrieb schnell an Nagai in Yamagata und an Lord Yanagi von Kushimoto, denen er befahl, ihre Männer direkt nach Chigawa zu senden. Dann gab er die Briefe Harada. »Es ist nicht nötig, sich mit Hagi oder sonst jemandem in Verbindung zu setzen. Vor allem Kitano soll nichts erfahren. Du musst beiden nachdrücklich sagen, dass sie sofort zu gehorchen haben.«
»Lord Otori.« Der Mann sprang ohne ein Zeichen von Müdigkeit in den Sattel und ritt, von zwei Soldaten mit Fackeln begleitet, in die Nacht davon.
Shigeru schaute ihnen nach, bis die Lichter so geschrumpft waren, dass sie von den Glühwürmchen oder den Sternen vor der schwarzen Finsternis der Ebene von Yaegahara nicht mehr zu unterscheiden waren.
»Ich hoffe, du bist einverstanden«, sagte er zu Irie, der neben ihm stand. »Tue ich das Richtige?«
»Sie haben entschieden gehandelt«, antwortete Irie. »Das ist richtig, wie die Folgen auch sein mögen.«
Mit denen muss ich leben, dachte Shigeru, sagte es aber nicht zu Irie. Er empfand es als Befreiung, so entschlossen gehandelt zu haben. Irie hatte Recht: weitaus besser, entschieden zu handeln, als gelähmt vor Aberglauben und Angst in endlosen Diskussionen und Beratungen zu sitzen.
»Jetzt werde ich mit Nesutoro reden«, sagte er. »Du brauchst nicht mitzukommen.«
Irie verneigte sich und blieb beim Schrein zurück. Während Shigeru sich zu dem Haus begab, in dem der Dorfälteste wohnte und dessen Schwager versorgt wurde, kam Kiyoshige aus dem Schatten auf ihn zu.
»Die Pferde sind angebunden und gefüttert. Und Wachtposten stehen rund ums Dorf. Es gibt nicht viel zu essen, aber die Männer beschweren sich nicht. Eigentlich sind sie glücklich â sie können den nächsten Kampf gegen die Tohan kaum abwarten.«
»Ich glaube, den bekommen sie bald genug«, entgegnete Shigeru. »Die Nachricht von dieser Begegnung wird innerhalb von Tagen nach Inuyama dringen und die Tohan werden reagieren. Aber bis dahin haben wir Verstärkung. Und von jetzt an werden unsere
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