Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
fügte sich seinen Ansichten.
Fast kam es ihm vor, als wären sie noch Jungen und trügen im Spiel Steinkämpfe aus, nur hatten sie jetzt richtige Soldaten und echte Untertanen unter ihrem Kommando. Sie bewachten die ganze Grenze von Küste zu Küste, schliefen endlose Nächte drauÃen unter dem sanften Sommerhimmel mit seinen riesigen, verschwommenen Sternen. Alle zwei Wochen oder so kehrten sie nach Chigawa zurück, wo sie die heiÃen Quellen und die üppigen Tafelfreuden des Spätsommers genossen.
Bei einer dieser Gelegenheiten spät im achten Monat an einem frühen Abend gerade vor Sonnenuntergang kamen Takeshi und Kahei in die Unterkunft, ihre Haare waren noch feucht vom Bad und sie lachten laut. Auch sie waren in den letzten Wochen gelöster geworden, befreit von der strengen Disziplin von Studium und Training, die ihr Leben in Hagi bestimmt hatte. Beide waren an der Schwelle zum Mannesalter, ihr Körper verlor das Schlaksige, die Glieder wurden länger, die Stimme brach. In einem Jahr oder zwei, dachte Shigeru, wenn er ihnen jetzt zuhörte, sollten sie nach Terayama gehen, um wie einst er die Selbstdisziplin zu lernen, die alles bündeln würde, was man sie bisher gelehrt hatte. Er hatte seinen Bruder in den letzten Wochen genau beobachtet und dabei versucht, Takeshis Leichtsinn und sein Ungestüm zu bremsen, wobei ihm aufgefallen war, wie sehr die Männer ihn mochten, ihn ermutigten und seine Furchtlosigkeit bewunderten. Shigeru hielt Kahei für verlässlicher: Sein Mut war ohne Unvorsichtigkeit, er suchte Rat und war bereit, ihn zu befolgen. Doch Takeshi glänzte mit einem weiteren Vorteil â dem angeborenen Talent der Otori, zu Hingabe und Ergebenheit zu ermuntern. Shigeru fragte sich wieder, wie er seinem Bruder am besten die Aufgaben anvertrauen könnte, die er brauchte. Takeshi zeigte kein Interesse an Bergbau oder Landwirtschaft, an der Verwaltung von Gütern oder der Entwicklung von Gewerben, seine Leidenschaft galt allein der Kriegskunst. Wenn seine Unbesonnenheit gezügelt werden konnte, wurde aus ihm möglicherweise ein groÃer General. Im Augenblick interessierte er sich allerdings mehr für individuelle heroische GroÃtaten alsfür die sorgfältige Planung von Strategie und Taktik. Noch weniger faszinierten ihn diplomatische Verhandlungen, die den Frieden sicherten. Er und Kiyoshige bedauerten oft, dass es keinen Krieg gab, und sehnten sich nach einer Gelegenheit, den Tohan eine Lektion zu erteilen, wie bei der Schlacht am Schrein, die Kiyoshige bei mehr als einer Gelegenheit in blutrünstigen Einzelheiten beschrieb.
Kiyoshige mochte Takeshi, und ihre gemeinsamen Abenteuer damals, als Shigeru in Terayama gewesen war, bildeten ein starkes Band zwischen ihnen. Shigeru bemerkte, wie Kiyoshige den Jüngeren ermunterte und stillschweigend sein Ungestüm guthieÃ, weil es seinem eigenen entsprach. Shigeru trennte die beiden absichtlich, wenn sie Patrouillen ritten, er schickte Kiyoshige mit Irie weg und behielt Takeshi bei sich, doch wenn sie sich in Chigawa trafen, hatte Kiyoshige seinen Spaà daran, mit Takeshi wegzugehen.
»DrauÃen war ein Mann mit einer Botschaft für dich«, sagte Takeshi. »So ungefähr der hässlichste Mann, der mir je unter die Augen gekommen ist.«
»Er sah aus wie eine geröstete Kastanie«, fügte Kahei hinzu.
»Wir haben ihm gesagt, er soll verschwinden.« Takeshi lachte. »So eine Frechheit zu glauben, du würdest mit ihm sprechen.«
»Geröstet?«, fragte Shigeru.
»Sein Gesicht war runzlig und rot, wie verbrannt.«
»Grauenhaft«, murmelte Takeshi. »Wir hätten ihn von seinem Elend erlösen sollen. Was hat so ein Mann noch vom Leben?«
Shigeru hatte mehr als einmal an den Mann gedacht, den er im vergangenen Jahr gerettet hatte, doch die Verborgenen schienen wieder verschwunden zu sein, wie es ihrem Namen entsprach. Es hatte keine weiteren Berichte von Angriffen über die Grenze hinweg gegeben, und obwohl ihm gelegentlich in den Sinn kam, was er über ihren seltsamen Glauben erfahren hatte, verwarf er es als einen weiteren Aberglauben. Davon hatte er durch seinen Vater mehr als genug. Jetzt erinnerte er sich wieder an Nesutoro und an seine Schwester, die wegen der Lehren ihres Gottes geglaubt hatte, ihm gleichgestellt zu sein, und er fragte sich, was der Mann gewollt hatte und ob es zu spät war, mit ihm zu
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