Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
vierzehn oder fünfzehn mit den gleichen hohen Wangenknochen und dem gleichen groÃen Mund. Das Mädchen wagte sich nicht herein, es kniete weiter an der Tür.
»Lord Otori«, sagte die ältere Frau stockend, »ich verdiene Ihre Güte nicht. Ihre GroÃzügigkeit ist unbeschreiblich.«
»Ich hoffe, dein Bruder hat sich erholt.«
»Dank Ihrer Güte, ja. Ihm geht es gut, aber â¦Â«
»Sprich weiter«, ermunterte er sie. Unbewegt hörte er zu, weder geschmeichelt noch beleidigt. Ihre Worte waren die höflichen Phrasen, ihrer Rolle als Bittstellerin angemessen; er fühlte, wie auch seine Rolle sich über ihn stülpte, zeitlos und unpersönlich, sie hatte nichts mit seinem siebzehnjährigen Ich oder seiner Persönlichkeit zu tun: Die Rolle des Führenden war ihm angeboren und anerzogen.
»Er verliert seine Sehkraft. Seine Augen wurden infiziert nach dem ⦠nach dem Brand, und er ist beinah blind. Mein Mann will ihn nicht bei uns haben, er ist eine zu groÃe Last, und aus seiner Familie ist niemand übrig, der sich um ihn kümmern könnte.«
Shigeru verstand ihren Konflikt â hin- und hergerissen zwischen ihrer Pflicht als Ehefrau und ihrer Liebe zu ihrem Bruder, ihrer Rolle als Frau des Dorfältesten, ihrem religiösen Glauben, der Scham, dass ihr Ehemann ihren älteren Bruder als Last empfand. Es überraschte Shigeru nicht, dass ihre Stimme wieder brach und Tränen flossen.
»Es tut mir sehr leid, das zu hören«, sagte er. Für einen Mann in Nesutoros Alter, dem die traditionellen Fertigkeiten der Blinden, Massage oder Lautenspiel, nicht mehr vermittelt wurden, bedeutete Blindheit gewöhnlich, dass er ein Bettler werden musste.
»Verzeihen Sie mir«, sagte sie. »Ich wusste keinen, an den ich mich wenden könnte, auÃer Lord Otori.«
»Was kann ich für dich tun?« Er staunte über ihre Kühnheit, die gleiche, mit der sie im vergangenen Jahr mit ihm geredet hatte.
Irie, der neben Shigeru saÃ, beugte sich vor und flüsterte: »Ich würde nicht raten, Geld oder irgendeine andere Art von Unterstützung zu geben. Es könnte von vielen falsch interpretiert werden und ein gefährliches Beispiel geben.«
Die Frau wartete, bis Irie ausgeredet hatte, dann sagte sie leise: »Ich bitte Sie nicht um Geld. Das würde ich nie tun. Mein Bruder hat es ausdrücklich verboten. Aber viele seiner Leute leben friedlich im Westen unter den Seishuu. Mein Bruder bittet um Ihre Erlaubnis, das Mittlere Land zu verlassen und zu ihnen zu gehen. Wir erbitten von Lord Otori lediglich einen Brief, der das bestätigt.«
»Wird man ihm erlauben, die Grenze zu überqueren? Und wie wird er reisen, wenn er fast blind ist?«
»Eine junge Frau wird mit ihm gehen.« Sie drehte sich um und wies auf das Mädchen drauÃen. »Meine zweite Tochter.« Das Mädchen hob einen Augenblick den Kopf, er sah, dass sie das gleiche kühne Gesicht hatte wie ihre Mutter.
»Dein Mann hat nichts dagegen, wenn sie euch verlässt?«
»Wir haben vier Töchter und drei Söhne. Wir können ein Kind einem Mann überlassen, der alle seine Kinder verloren hat. Ich komme mit der Erlaubnis meines Mannes. Ich würde mich nie seinen Wünschen widersetzen, wie Lord Otori bereits weiÃ.«
»Lord Otori erinnert sich vielleicht nicht an jede Einzelheit aus dem Leben aller, die er trifft«, sagte Kiyoshige, der nicht wusste, dass Shigeru sich an alles aus jener Nacht erinnerte â an den verletzten, fiebernden Mann, die Frau, die es wagte, ihn direkt anzusprechen, die Wut und Verständnislosigkeit ihres Mannes.
»Lass den Brief für die beiden schreiben«, sagte Shigeru zu Irie. »Sie haben meine Erlaubnis, in den Westen zu reisen. Ich werde ihn mit meinem Siegel versehen.«
»Wirst du nicht wie unser Vater werden?«, fragte Takeshi später, als die Brüder allein waren.
»Was meinst du?«, entgegnete Shigeru.
»Immerzu Priester zu Rate ziehen, Ratschläge aller möglichen unerwünschten Leute annehmen.« Takeshi sah den missbilligenden Blick seines Bruders und sagte rasch: »Ich meine keinerlei Respektlosigkeit. Aber alle reden davon und bedauern es. Und du empfängst diese Frau und stellst ihren Bruder unter deinen Schutz ⦠warum? Es wirkt so seltsam. Ich möchte nicht hören, dass die Leute das Verhalten meines
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