Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
fühlte in ihrem Herzen zugleich den Schmerz von Enttäuschung und Verzweiflung. Ich bin so sehr in Gefahr, dachte sie. Ich verliebe mich in ihn. Sofort täuschte sie Gleichgültigkeit vor. »Aber natürlich, du wirst sehr beschäftigt sein. Gut, ich werde auf deine Rückkehr warten.«
»Ich komme morgen Abend wieder«, sagte er.
Nachdem er gegangen und der Klang der Pferdehufe verstummt war, lag sie da, horchte auf das Meer und denWind in den Kiefern und haderte mit sich wegen ihrer Dummheit. Sie fürchtete, ihn zu lieben, und hatte Angst vor dem Schmerz, den ihr das verursachen würde; sie fürchtete, ihn zu verlieren, an seine Frau oder in einer Schlacht â warum hatte er von Krieg gesprochen? â oder wegen ihres Abkommens mit Masahiro.
Er kam wie versprochen am folgenden Abend und redete ein wenig mehr über seine Reise, die er bei gutem Wetter am nächsten Tag beginnen wollte. Sie versuchte ihre Gefühle zu verbergen und sich ganz seinem Vergnügen zu widmen, doch nach dem Zusammensein war sie ungewohnt nervös und unzufrieden.
Sie war â nachdem Shigeru die Stadt verlassen hatte â noch verstörter, als eine Nachricht eintraf mit dem Vorschlag, sie solle an diesem Nachmittag einen ihrer üblichen Besuche in Daishoin machen. Das Schreiben war ohne Unterschrift, doch Akane hatte keinen Zweifel, von wem es kam. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie gehen sollte oder nicht. Es war heià und sie war müde und schlecht gelaunt, doch die Aussicht, den ganzen Tag trübsinnig im Haus zu verbringen, sagte ihr auch nicht zu. SchlieÃlich bestellte sie die Sänfte und kleidete sich sorgfältig an.
Die Hitze lieà die Tempeldächer flimmern. WeiÃe Tauben hatten ihre Nester unter den breiten Dachvorsprüngen und ihr Gurren vermischte sich mit dem beharrlichen Tschilpen der Spatzen und dem Zirpen der Zikaden. Rote herbstliche Libellen tanzten über dem kühlen Wasser der Zisterne im Vorhof. Akane spülte Hände und Mund, dann verneigte sie sich vor dem Eingang zur Haupthalle des Tempels. Der halbdunkle Innenraum schien verlassen und sie ging, gefolgt von der Dienerin, die sie mitgebracht hatte, in den Schatten des heiligen Hains. Hier kam es ihr ein wenig kühler vor. Wasser rieselte von einem Springbrunnen in eine Reihe von Teichen, in denen goldene und rote Fische träge schwammen.
Ein Mann hockte unter den Bäumen und beobachtete die Fische. Akane erkannte Masahiro. Er stand auf, als sie näher kam. Weder grüÃte er sie noch gab er sich mit anderen Höflichkeiten ab.
»Ich habe mich gefragt, ob du Neuigkeiten für mich hast.«
»Nur, was Lord Otori schon wissen muss: Ihr Neffe ist abgereist, er begleitet seine Frau nach Hause.«
»Aber ist das der eigentliche Zweck der Reise oder hat er noch andere Absichten?«
»Takeshi soll nach Terayama.«
»Ja, und Hagi wird viel angenehmer sein ohne ihn.«
»Es tut mir leid, sonst hat er mir nichts erzählt.«
»Ich bin mir sicher, dass er noch anderes im Sinn hatte.«
Masahiro lieà seinen Blick über ihre Figur wandern. »Und wer könnte ihm das verargen?«
Angst überkam sie bei seiner Lüsternheit, sie musste etwas für ihn erfinden. Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie vor längerer Zeit geführt hatten. »Er interessiert sich für die Seishuufamilien. Vielleicht will er jemand von den Arai oder Maruyama treffen.«
»Hat er das gesagt?«
»Ich bin mir sicher, dass er das erwähnt hat.« Shigeru hatte es ihr nicht genau so erzählt, doch die Neuigkeithatte die erwünschte Wirkung auf Masahiro und lenkte seine Aufmerksamkeit von ihr ab.
»So etwas habe ich mir gedacht«, murmelte er. »Ich muss meinen Bruder informieren.«
Es ist nicht wahr, dachte Akane, als die Sänfte sie nach Hause trug, also kann es ihm bestimmt nicht schaden.
KAPITEL 23Â
Die Reise verlief gemächlich, denn sie hatten noch mehrere Wochen gutes Wetter vor sich, und weil der Zweck angeblich häuslicher und friedlicher Natur war, nahmen sie jede Gelegenheit wahr, an berühmten Orten und in schönen Landschaften auf ihrer Route anzuhalten sowie verschiedenen Otorivasallen und Gefolgsleuten förmliche Besuche abzustatten. Eigentlich wollte Shigeru durch diese langsame Fahrt den Boten, die er zu Otori Eijiro gesandt hatte, Zeit genug geben, dessen Antwort zurückzubringen;
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