Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
dass die Jungen mit mir zurücknach Hagi kommen, dachte er â und wenn ich nur Zeit hätte, nach Hofu zu reisen.
An einem Nachmittag gegen Ende des zehnten Monats, als sie auf dem Rückweg nach Yamagata waren, kanterte Takeshi, der mit Kiyoshige vorausgeritten war, zu Shigeru zurück.
»Ich dachte, das möchtest du wissen: Der Mann, den wir in Chigawa weggeschickt haben, der Verbrannte, ist vor uns auf der StraÃe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mit ihm reden willst, aber ⦠nun, es tut mir leid, ich habe ihn damals schlecht behandelt, obwohl er doch in deiner Gunst steht, also versuche ich es wiedergutzumachen.«
Schon wollte Shigeru Takeshi bitten, einen Diener zu schicken, der sich nach der Gesundheit des Mannes erkundigte und ihm etwas zu essen gab, doch die Schönheit des Herbsttags und seine gehobene Laune, seit er Moe in ihrem Elternhaus zurückgelassen hatte, lieÃen ihn spontan sagen: »Wir halten eine Zeit lang und machen Rast. Sag der jungen Frau, sie soll ihren Onkel zu mir bringen.«
Schnell war hinter einem kleinen Gehölz ein provisorisches Lager aufgeschlagen, Matten wurden auf den Boden gelegt und mit Seidenkissen bedeckt, Feuer angezündet und Wasser gekocht. Ein kleiner Sessel war für Shigeru bestimmt. Takeshi saà neben ihm und sie tranken Tee von den Südhängen Kushimotos, den Moes Eltern ihnen gegeben hatten, aÃen frische Dattelpflaumen und eine süÃe Kastanienpaste.
Die Luft war frisch und klar, die Sonne noch angenehm warm. Ginkgobäume im Gehölz verstreuten ihre Blätter in goldenem Gestöber.
Er kann nichts davon sehen, dachte Shigeru mitleidig, als das Mädchen Nesutoro zu ihm führte.
»Onkel, Lord Otori ist hier«, hörte er sie flüstern, als sie dem Mann half zu knien.
»Lord Otori?« Er hielt den Kopf hoch, als versuche er ihn mit seiner letzten Sehkraft wahrzunehmen.
»Nesutoro.« Shigeru wollte einen Mann von solcher Tapferkeit nicht durch Mitgefühl beleidigen. »Es freut mich zu sehen, dass du auf deiner Reise gut vorankommst.«
»Dank Ihrer Güte, Lord.«
»Gebt ihm Tee«, sagte Shigeru und die Diener traten mit einer Holzschale vor. Das Mädchen nahm sie ihnen ab und legte die Hände ihres Onkels darum. Er verneigte sich dankend und trank.
Das Mädchen bewegte sich gewandt und anmutig. Shigeru merkte, wie Takeshi sie beobachtete, und erinnerte sich, wie es war, als seine eigenen Augen das erste Mal von Frauen angezogen worden waren. Bestimmt war Takeshi noch zu jung! Oder war er auf diesem Gebiet so frühreif wie auf allen anderen? Er würde mit ihm reden, ihn vor den Gefahren der Verliebtheit warnen müssen. Aber das Mädchen war hübsch, sie erinnerte ihn an Akane und daran, wie sehr er sie vermisste.
»Was wirst du tun, wenn du nach Maruyama kommst?«, fragte er.
»Ich glaube, der Geheime hat einen Plan für mein Leben«, antwortete der Mann. »Er hat mich verschont; er hat mich bis hierher gebracht.« Er lächelte und seineNarben und die Blindheit waren plötzlich nicht mehr so hässlich.
»Ich bin froh, dass ich euch gesehen habe«, sagte Shigeru und wies die Diener an, dem Mädchen einige Reiskuchen zu geben. »Kümmere dich um ihn.«
Sie nickte und verbeugte sich dankbar, offenbar zu schüchtern, um zu sprechen.
Nesutoro sagte: »Möge er Sie segnen und immer beschützen.«
»Der Segen ihres Gottes scheint eher ein Fluch zu sein«, bemerkte Takeshi, als sie weiterreisten.
Shigeru drehte sich im Sattel um, er wollte einen letzten Blick auf das Mädchen werfen, das den Blinden die StraÃe entlangführte. Im Licht der Nachmittagssonne wurde der Staub um sie herum zu einem goldenen Schleier.
»Ich hoffe, sein Leben ist von jetzt an sicher und glücklich. Aber kann man je von solchen Leiden genesen?«
»Besser, man nimmt sich das Leben â und weitaus ehrenwerter«, sagte Takeshi.
»Den Verborgenen ist es verboten, sich selbst zu töten«, erklärte ihm Kiyoshige. »Genau wie es ihnen verboten ist, andere umzubringen.«
Es war das völlige Gegenteil von allem, was Takeshi zu glauben gelernt hatte. Shigeru konnte sehen, dass sein Bruder den Gedanken nicht verstand. Er war selbst nicht sicher, ob er ihn verstand. Doch es erschien ihm falsch, dass Menschen, die nicht töteten, gefoltert und ermordet werden sollten. Es war, als würde man Kinder
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