Der Clown ohne Ort
Faltenrock, eleganten Tölpeln, Louises Schönem, will Adorno mit Nietzsche und Jesus …
»Und jetzt?«, fragt Cécile.
»Wie, und jetzt?«, fragt Chris.
»Was heißt das konkret?«
Argan, der eingebildete Kranke, war auf den durchnässten Planken ausgerutscht, hatte den Fauxpas allerdings sehr gut überspielt, wie die Mitspieler meinten – die Improtheatererfahrung hatte Daniel offensichtlich geholfen. Hinter der Bühne hatte man einen dumpfen Schlag gehört. Es hatte nicht gut geklungen. Der Ausfall des Hauptdarstellers zweier Stücke wäre kaum zu kompensieren gewesen. Durchnässtes Holz lässt sich nicht in zwei Stunden trocknen, denkt Naïn, noch blödsinnig vom durchzechten Vormittag. Theoretisch konnte so etwas immer passieren. So war das nun mal beim Open Air. Außerdem hatte Roger die Bühne kurz vor Vorstellungsbeginn freigegeben.
Eine Stunde später ziehen am Horizont schwarze, von der untergehenden Sonne feuerrot beränderte Wolkengebirge grollend in die Stadt. Das Spiel wird mit dem Wetterumschwung intensiver. Naïn ist hingerissen von der Kulisse dieses idealistischen Volkstheaters, dem Gaukler in seinem flüchtigen Handwerk, dem Ich, das er in seiner Rolle wiegt, bisweilen vergisst, dann wieder schützend umschließt, um erleichtert und bedrückt zugleich das Flüchtige zu lieben – alles ständig neu, in jedem das Unmögliche.
Im wattierten babyblauen Strampelanzug sitzt der Hypochonder in seinem vergoldeten Rollstuhl. Von Toinette, Angélique und ihrem Geliebtem Cléante umflattert und benutzt, keift er sich zufrieden in die Gesundheit seiner neuen alten Krankheit. Und dann wird es besiegelt: Es gibt keine gesunden Menschen, nur schlecht untersuchte, und wem nicht mehr zu helfen ist, wird einfach der Himmel versprochen – der falsch verliebten Tochter die Ewigkeit mit dem Arztsöhnchen, den eingebildeten Doktoren und Patienten der dauerhafte Selbstbetrug der Wissenschaft. »Rette sich, wer kann!« wird zum Gebot der Stunde. Als letzte Hoffnung bleibt die Renitenz des letzten Glieds, das immer noch das erste bleibt: Das Hausmädchen führt den Gesunden zur endgültigen Einsicht: Einbildung selbst bleibt dem Hypochonder die beste Medizin.
Kurz nach Vorstellungsende schüttet es wie aus Kübeln. Durchnässt bis auf die Knochen statieren Naïn und Mütze neben der Bühne und ringen um Fassung: Chris’ Plan war wahnwitzig, chaplinesk sich selbst verblendend – dabei dieses schlichte, vage Wohlbehagen – er wird mitmachen, denkt er jetzt. Auch wenn es sinn- und zwecklos bliebe, es würde vielleicht helfen, wieder normal zu werden, was immer das auch hieß.
Bo und er machen die Bühne nachtfest, soweit das eben geht im strömenden Regen, gehen zur Bar und betrinken sich mit der Truppe. Gute zwei Stunden später steigt er auf sein Fahrrad und strampelt pfeifend durch die Gewitterfrische nach Hause.
Klitschnass setzt er sich ans Fenster, raucht eine Zigarette und beobachtet eine Weile die dunklen Fenster von Lisas Wohnung. Dann schaltet er den Computer ein.
In der Morgendämmerung schickt Naïn seine Entwürfe mit Bitte um baldmöglichste Durchsicht und Besprechung unter der Überschrift »Vorschläge« per E-Mail an Chris. Gegen acht Uhr abends ruft der zurück. Seine Stimme überschlägt sich. Er übertreibt mal wieder, denkt Naïn. Nach den beiden Vorstellungen fährt er gleich zu ihm. Louise, Marianne und Cécile sind mit von der Partie. Bis in die Morgenstunden diskutieren sie die weitere Vorgehensweise. Schon bald stellt sich eine schwammige Arbeitsteilung ein: Naïn wird als Ideengeber fungieren, Chris als Macher, Louise und Marianne werden für die so wichtige Öffentlichkeitsarbeit zuständig sein und Cécile soll so etwas wie die Hüterin der eigenen Grundsätze werden.
Zunächst wollen sie ihr Projekt in Kunstform an der Öffentlichkeit prüfen. Da Marianne mit einem gut vernetzten Galeristen aus der Auguststraße befreundet ist, haben sie ganz gute Voraussetzungen, einen angemessenen Raum zu finden. Sie entwerfen eine Ausstellung über die fiktive Planung und Ausführung einer Revolution, die bei ihnen E.volution heißen soll. Mit Filmen, Bildern und Tonaufnahmen, die sich nicht zu knapp der Computertechnik bedienen, wollen sie das Projekt zunächst möglichst anschaulich darstellen – als hätte Sergej Eisenstein die Oktoberrevolution dadaistisch verfilmt, wie Louise meint. Kritik und Perspektive, denkt Naïn sarkastisch und wischt die Laune mit einem fahrlässigen »Gute
Weitere Kostenlose Bücher