Der Clown ohne Ort
und Zitrone zu beträufeln. Er kriegt keine drei Bissen runter.
Das Telefon klingelt.
»Na endlich! Das war der Hammer hier drüben! Wir haben voll ins Schwarze getroffen! Wir sind das Gesprächsthema! Alter! O man, das ist Wahnsinn! – Naïn?«
Naïn hatte aufgelegt.
Die folgenden Wochen verlaufen im Zeitraffer. Der Erfolg überrascht sie alle mit einem Ausmaß, dem sogar Naïns ausgeprägtes Vorstellungsvermögen unterliegt. In Frankreich und Deutschland berichten die überregionalen Feuilletons über das Projekt. Wie die Unter- gibt auch die Überschrift dem Geschriebenen Form. Ein Journalist schreibt: »Die neuen Utopisten«, was ihnen am besten gefällt. Die Begeisterung weicht schon beim zweiten Treffen einer fiebrigen, hoch konzentrierten Arbeitsweise. Es ging ja drum, »Revolution in echt« zu machen. Naïn tangiert das nur noch peripher. An seiner Mützenproblematik hatte sich nichts geändert.
Der Hochsommer bricht an. Naïn hängt weiter seinen philosophischen Grundsätzen an, pflegt seine Süchte und schafft fleißig am Theater. Argan, die Hauptnebenfigur des Molièrestückes, begleitet ihn fast jeden Abend in den Schlaf. Chris und Cécile beschäftigen sich anscheinend weiter mit dem Aufbau einer Organisation, die zwar nicht Partei heißen, doch ähnlich aufgebaut werden soll, »viel basisdemokratischer natürlich, mit Internet und so«. Mehr weiß Naïn nicht. Er will auch nicht mehr wissen. Louise und Marianne sind mit ihren Praktika beschäftigt, Louise im Bundestag, Marianne in einer führenden Werbeagentur mit lustigem, kreativ-konservativ klingendem Namen, Zum goldenen Reh , soweit er sich erinnert. Ihr Team bereitet gerade eine Informationskampagne der Regierung vor. Netzwerkaufbau fürs Projekt nennt sie das. Um sich auf dem Laufenden zu halten, trifft sich die Gruppe wöchentlich. Naïn geht trinken und wird politisch unter der Mütze: Das Licht am Ende des Tunnels, man hält 400 Lebensjahre für realistisch, Würmer, Wissenschaft biblischer Alter. Er nimmt’s sprachlos hin, wie so vieles der Schwemme. Alles kann versprochen, nichts gehalten werden. Es war mal um die Freiheit und Gleichheit aller gegangen, um die Abschaffung der Feudalgesellschaft. Und jetzt wurde das Aufgeklärte wieder zum Aufzuklärenden: die Politik als Klerus, die Besitzer als neuer Adel und ein abgehängter, abhängiger Rest, der zweigeteilt in Spezialisten und Überflüssige im Schaufenster der Utopie zum Verkauf stand. Mittelalter der Moderne. Und seine Krundheit. In seinem Klagelied hatte Nietzsche noch geschrieben:
Es sind vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der »vita contemplativa« mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an großen Moralisten, dass Pascal, Epiktet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiß – sonst im Gefolge der großen Göttin Gesundheit – mitunter wie eine Krankheit zu wüten scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich damit, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urteilen gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennenlernen. Selbstständige und vorsichtige Haltung der Erkenntnis schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab; der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiß vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Kultur zu zeigen. – Eine solche Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius der Meditation verstummen.
»Wege und Ziele der Kultur zeigen« und gescheiterte Künstler wurden Diktatoren. Camille de Toledo forderte:
Eine Proteststrategie, die dem Informationszeitalter angepasst ist, weder zynisch noch reaktionär, etwas, das die Geschwindigkeit benutzt, um die Langsamkeit zu loben; etwas Entkörpertes, das sich für das Recht des Körpers einsetzt, etwas, das sich bewegt und flüssig ist und im
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