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Der Clown ohne Ort

Der Clown ohne Ort

Titel: Der Clown ohne Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Martini
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Freude oder sentimentale? Und dann die Gewissheit: Sie ist für immer weg. Er ruft Chris an. Der ist kurz angebunden. Das Projekt steckt fest.
    Am nächsten Tag ist Naïn in Mitte unterwegs. Vor dem Alten Europa hängt ein Plakat an der Laterne: auf schwarzem Hintergrund das Foto eines Entgeisterten, darunter in weißer Schreibmaschinenschrift Im Wahnsinn enthüllt sich der Zustand der Welt . Begeistert friemelt er das Plakat ab und nimmt es mit nach Hause. Er hängt es an zentraler Stelle über dem Sideboard als Erinnerungshilfe auf.
    Ein paar Tage später sitzt die Truppe bei einigen Gläsern Wein im Alten Europa. Jans Geburtstag wird betrunken. Roger hatte einen Nervenzusammenbruch. Keinen gewöhnlichen. »Verdammt ernst diesmal«, hatte Jan gesagt. Roger stellt sich neben Naïn, der leicht beduselt am Tresen steht, um sich einen Weißen zu ordern.
    »Na?! Was willst’n trinken?«, fragt Naïn.
    »’n Bier.«
    »Fritz, gibst du uns noch ’n Großes dazu? Was ist eigentlich los, Roger? Wir machen uns Sorgen.«
    –
    »Ich glaube, es wäre ganz gut, wenn wir …«
    –
    »Ich meine, du sagst doch immer, wir seien ’ne große Familie!?«
    »Ich sitze einfach in der Scheiße, ohne dass sich eine Lösung abzeichnet. Seit der Trennung von Nora läuft alles schief.«
    »Das ist doch schon ein paar Jahre her, oder?«
    »Die Zeit hat nichts damit zu tun. Ich muss ihr monatlich so viel abdrücken, dass mir kaum was zum Leben übrig bleibt. Seit vier Jahren häufe ich Schulden an, und was ich hier am Theater verdiene, geht an sie oder in die Schuldentilgung. Ich hab zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Mir wird schlecht angesichts meiner Nichtmöglichkeiten. Ich kann weder vor noch zurück.« Naïn schweigt betreten. »Warum erzähle ich dir das eigentlich alles?« Fritz stellt die Getränke vor sie hin, Roger winkt ab und setzt sich wieder zu den anderen an den Tisch.
    Der Abend nimmt den gewöhnlichen Lauf. Später schwirren wieder Kurze durch den Raum, untrügliche Vorboten des Absturzes. Geht ein Schauspieler an einer Bar vorbei. Schon eine halbe Stunde später macht Naïn mit Freundeskreis Erste Schritte , die letzten pathetisch Richtung Bett. Auf dem Weg versenkt er einen Mutanfall in einem Klingelversuch an Lisas Tür. Keine Antwort, die Fenster spiegelnde Leere. Im Bett den Heli zu Besuch, er hält sich an der Matratze fest, um nicht rausgedreht zu werden. Er flieht kotzen.
    Auf dem kalten Fliesenboden des Bads wacht er auf. Sein Gesicht auf die Mütze gefaltet. Er rappelt sich hoch und setzt sich kurz auf den Klodeckel, um zu sich zu kommen. Könnt ’ne Wäsche vertragen, denkt er, die Mütze in seiner Rechten wiegend. Dann duscht er. Zum Frühstück kocht er zwei Eier, gibt sie mit Toast, Butter, Basilikum, Salz und Pfeffer in ein Glas und vermengt das Ganze zu einer breiigen Pampe, wie seine Großmutter in den Sommerferien das immer für ihn gemacht hatte. Er schaltet den Computer ein. Chris hat geschrieben.
    Hallo Naïn,
    immer wenn wir uns unterhalten, entdecke ich unter der schön geschneiderten Hülle des Selbstverständlichen das Selbstverständnis des hässlich Gealterten.
    Ich glaube, du hattest recht: Die Evolution, die wir im Gegensatz zur Revolution propagierten, ist leider doch nur Aufbauen auf dem Dagewesenen, in unserem Fall, Aufbauen auf dem bereits Ungerechten. Vielleicht kann heute wirklich nur der Verrückte Optimist sein, wie du sagtest. Das war er ja schon zu Voltaires Zeiten, der mit »Candide« vielleicht auch mich persifliert hat. Und ja, du hast recht: Die Zeit einer zweiten Aufklärung ist gekommen. Wieder müssen wir Eigentumsmythen ändern.
    Wir streben ja keinen Kommunismus oder Weltsozialismus oder Staatskapitalismus an. Das haben schon andere versucht. Ich, nein, wir glauben an die Freiheit des Individuums, die Freiheit, soweit uns die menschlichen Möglichkeiten tragen können, selbst bestimmen zu können – selbst wenn es das absolut Objektive geben sollte: Wir Menschen sind zu beschränkt, es jemals zu fassen, womit zumindest die Idee des freien Willens bestimmend bleiben wird. Der Zweifel daran erübrigt sich als Tautologie.
    Es ist doch alles nur Theater, hast du gesagt. Doch es geht um alles! Uns bleibt keine Wahl! Wir sind zum Versuch verdammt! Dies ist unsere Verantwortung als Generation einer Zeitenwende. Außer dem Status quo wird uns momentan nichts als der Weltuntergang versprochen, wenn wir nicht, ja wenn was? Wenn wir nicht weitermachen wie bisher? Das ist

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