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Der Clown ohne Ort

Der Clown ohne Ort

Titel: Der Clown ohne Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Martini
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seine Kinder an die Welt verlor – entschuldige meine Pathetik, sie fällt leichter mit dem Alter.
    Du schriebst, die Menschen seien lethargisch, ergäben sich auf komische Weise einem Schicksal, an das sie selbst nicht glauben. Mutter und ich wissen um Deine Stärke, diesem Nihilismus zu widerstehen. Es liegt keine Erleichterung in ihm.
    Habt Ihr viele Klöster besucht? Man sagt, sie bergen inzwischen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Haben sie gelernt, den Garten zu bestellen und nicht zu plündern? Du weißt, das Leben ist auf wundersame Weise härter und wärmer hier im Ring, bedingter und freier zugleich, eingebetteter in die natürlichen Läufe vielleicht, die das Vergehen nicht weniger als das Sein würdigen. Man denkt über Grundlegenderes nach – man ist grundsätzlicher, glaube ich.
    Wie geht es L? Habt Ihr genug zu essen? Halten Deine Schuhe noch? Vielleicht habt Ihr ja bereits Arcachon erreicht. Kannst Du mit Tiefe und Weite des Meeres so viel anfangen wie ich? Gefällt Dir die Einsamkeit so gut wie mir?
    Du kennst Deinen Alten. Neugierig wie eh und je bin ich. Hast Du noch Fußball gespielt? Sind die Frauen in der Provence immer noch so natürlich schön, wie ich Dir erzählte? Hat der Wein noch Charakter? Lächeln die Menschen noch oder blicken sie schon in den Abgrund wie im Alpenkreis? Was geht da vor sich, da selbst das Wetter schon von Unheil kündet?
    Genug der Fragen. Wisst uns sicher und in Gedanken bei Euch, wir wandern mit in unseren Herzen.
    Fröhliche Grüße aus Mediam
    Zehn Jahre ist das schon her. Noch früher, im Kindergarten, Sonnenstrahlen, Matrosenanzüge, die Haare trug sie noch gebunden zu zwei langen Zöpfen. Die letzte Woche vor den Sommerferien war’s gewesen, den letzten vor der Einschulung: Ich will es L beweisen. Vom Spielhof führt eine völlig verrostete, ungesicherte Außentreppe zum Dachboden des Hauptgebäudes. Geld für eine sichere Absperrung ist nicht da. Die Erzieher wissen sich zu helfen: Sie erzählen von weißen Ratten und Mäusen mit Feueraugen, die hochkletternde Kinder fressen. Die Warnung hatte lange bis in unsere Träume hinein gewirkt – bis jetzt.
    L steht weinend am Treppenabsatz, meines Todes sicher. Forsch steige ich die Stufen empor, wahrscheinlich renne ich fast, ich weiß es nicht mehr so genau. Drei Stufen vor dem Absatz halte ich inne. Von hier, viel höher, als es von unten scheint, sieht plötzlich alles so anders, so klein aus, nur L … Ich fasse mir ein Herz, irgendeins, es pocht wie verrückt: Es gibt keine Mäuse, die Kinder fressen, es gibt keine Mäuse, die Kinder fressen, hat Mama gesagt! Ich drehe mich wieder um und mache die letzten Schritte.
    Vor der geweißelten Holztür halte ich inne, dann beuge ich mich nach vorn. Ohne die Tür anzufassen, versuche ich durchs Schlüsselloch zu spicken. Rohe Dunkelheit schlägt mir entgegen, kurz setzt mein Atem aus, ich fasse mir noch ein Herz, irgendeins, gehe in die Knie und versuche es mit dem Türspalt, es gibt keine Mäuse, die Kinder … wieder – nichts. Es gibt keine Mäuse, die Kinder fressen, sage ich zuerst viel zu leise, automatisch irgendwie, und dann komme ich wieder zu mir und schreie es stolz wie Johann in die Welt hinaus: Es gibt keine Mäuse die Kinder fressen!
    L nimmt die Hände aus dem Gesicht, blickt zu mir hoch, um sich den Pulk johlender Kinder, die jetzt um die besten Sehplätze balgen. Wie eine Statue inmitten wilder Zeitenstrudel sieht sie aus, so zumindest wirkt das jetzt im Nachhinein auf mich. Als Matrosensiegfried schreite ich mit fröstelndem Nacken die Drachentreppe hinab und drücke der in Schockstarre gefallenen L, vor aller Augen, übermütig den ersten Kuss meines Lebens auf den Mund. L stockt auf, kurz, schallert mir eine, heftig, sagt spitz: Du bist ja gar nicht reingegangen! und rennt unter gellendem Gelächter ins Nebengebäude.

Die Fata Morgana Rennbahn
    An der Rückseite seines Mietshauses befindet sich eine gemeinschaftlich genutzte Grünfläche, die fast Fußballplatzgröße besitzt. Im Zweiten waren die Hinterhäuser des Quartiers zerbombt und schon in den Jahren 48/49 die Fläche freigeräumt und als Garten benutzt worden. Inzwischen gab es in der Idylle von Hecken befriedete Parzellen, die jede Hausgemeinschaft nach Gusto bebaute. Hier ein Gemüse-, dort ein Blumenbeet mit Gartenteich, in der Mitte ein Kinderspielplatz, der vor drei Jahren erst eine neue Spielanlage mit Klettergerüst erhalten hatte. Der zaunlose Traum der Prenzlberger

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