Der Clown ohne Ort
regennasse Straße, den lichtlosen Radfahrer mit viel zu fetten Kopfhörern, Blätter, die hoffnungslos an toten Zweigen hängen, Hände, die sich ins Geländer krallen, es ist zu warm für Dezember. Er atmet tief durch, saugt wieder Leben in sich ein, kommt zur Vernunft, irgendeiner, richtet sich auf und geht zurück ins Zimmer. »I’d like to smoke a joint«, sagt er. Sie baut schweigend einen Amerikanischen, ohne Tabak also, er raucht ihn praktisch alleine.
Am nächsten Morgen wacht er nach traumlosem Schlaf nackt neben ihr auf. Die Sonne scheint, das Leben ein Freudentanz. Es ist gut, ein Bewunderer seiner selbst zu sein, denkt er. Dann erst staunt und lächelt die Welt zurück. Praktische Philosophie.
Er geht, ohne Adieu zu sagen, über die Warschauer Brücke geht er, zur Tram geht er, in seine Wohnung geht er, an schön vollgeschmierten Häuserwänden vorbei, zerzaust und glücklich macht er das, euphorisch, frei vielleicht, legt sich ins Bett, trinkt ein Glas Rotwein und schläft wieder ein, fröhlich fast, mitgenommener, als ihm lieb sein kann. Alles gut.
Zwei Monate später trifft er sie zufällig wieder auf einer Vernissage, wie das eben ist: Die Welt ist klein und Berlin ein Dorf.
Er ist mit Tom auf Sauftour, sie wollen kurz in der Torstraße haltmachen, bevor es nach Kreuzkölln weitergeht. Die Ausstellung ist nicht erwähnenswert, der Sekt wie die Kunst, blutleer, sans esprit, denkt er sarkastisch, sich auf gewöhnlich affektiertes Palaver einstellend, fragt noch Tom: »Was machen wir hier eigentlich?«, da sieht er hinten in der Ecke W, verlassen im Arm eines Barbourjackenträgers, der verwaschene Ampelmännchenshirts offensichtlich für ein dialektisches Statement hält. W entdeckt ihn, kann ihre Freude nicht verhehlen, löst sich aus der Beklemmung, kommt auf ihn zu und umarmt ihn ein bisschen zu fest und innig. »Why didn’t you answer my calls?«, fragt sie. Naïn versucht, Don-Juan-mäßig zu gucken. Sie gräbt sich in seine Brust. Naïn ist das an- und unangenehm zugleich, kann sich nicht entscheiden, umarmt sie noch mal, verlegen, »Is that Lucard?«, fragt er. Sie seufzt, kurz hält sie inne, schaut auf, löst sich von ihm, nimmt seine Hand und zieht ihn, wie ein Teenager, die ihren Freund einführt, zu dem Spackmaten. »Hi, I’m …« »Ich weiß«, sagt Lucard, ohne ihm die Hand zu reichen. Naïn blickt fragend zu W. Die stiert Lucard an, angewidert, wie das nur Frauen können, strahlt Naïn an, glücklich, wie das nur Mädchen können, Naïn schaut Lucard an, schaut W an, sie lächelt Naïn an, fällt über ihn her und küsst ihn, wie das nur sie kann. I’m Rick James bitch!
Lucard steht perplex da, wie das nur gehörnte Männer können, das Glas wirft sich wie von selbst aus seiner Hand, Naïn sieht noch eine Faust auf sein Gesicht zufliegen, bevor er auf dem Boden wieder zu sich kommt, die tobende, milchbärtige Visage über ihm, Lucards Knie auf seiner Brust gräbt ihm stolz die Luft weg. W steht belustigt daneben. Naïn muss auch, kann aber nicht lachen, kann nicht raus, schnürt alles endgültig weg, da fliegt Tom heran, in der Rechten zusammengerollt die Weihnachtsausgabe der ELLE und brezelt sie Lucard inbrünstig an den Schädel.
Zwei Tage später war W wieder weg, for good. Halbes Jahr Washington, dann São Paulo mit open end.
Gegen sieben klingelt B. Sie sieht umwerfend aus. »Ich liebe deine Louboutins!«, sagt Naïn. Sie lächelt süffisant, guckt verschämt und beißt sich verspielt die Unterlippe ruch. Zum Vorplätschern hat sie Veuve und ’n knappes Grämmle Koks mitgebracht, präarkadische Dekadenzen.
Gute zwei Stunden, also ’n halbes Grämmle und zwei Flaschen später, sitzen sie in einem Stern mit Lederausstattung. Es regnet, im Radio wird Schneefall vorhergesagt. Das Taxi duftet in einer Mischung aus Waldmeister und Chanel Mademoiselle. Seine Perücke ziept, er kratzt sie zurecht, merkt, wie das Perückenband sich verschiebt, er bittet B, es zu richten. Knapp zehn Minuten später sind sie da. Der Fahrer hält, sie zahlen und steigen aus. Der Wind beißend, Naïn stolz, überlegen, klar, fokussiert, das Leder seiner Vintageclutch glitscht seine Handfläche. B hakt sich bei ihm ein, drückt die Klingel, ihr Fingerabdruck zeichnet sich auf dem glänzenden Messing ab. Kurz darauf knackt es leise im Schloss, B lehnt sich gegen die Tür und sie treten in den Hauseingang. Auf dem Fußboden ein Natursteinmosaik, Bacchanten, er erkennt Silenen und Satyrn, an der Decke
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