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Der Clown ohne Ort

Der Clown ohne Ort

Titel: Der Clown ohne Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Martini
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Viaduktbogen überspannt die Straße, mittig thront ein Flaknest darauf, der Schütze zeigt mir seinen baren Rücken. Ich weiß nicht, ob ich fliege oder schwebe, fahre oder gehe, da entscheidet sich’s für ’n Fahrrad. Ein Diamant, mindestens fünfzig Jahre alt der schöne Gaul, federleicht sitzt sich’s im Sattel, gleitet auf den Bogen zu. Krieg?, frage ich verspätet, erschrocken in den Himmel. Stille, gleißend weißblaue Leere ist der, kein Flugzeug, keine Wolke weit und breit. Ich wende meinen Blick wieder nach vorn, da heulen augenblicklich Motoren hinter mir auf: Aus dem Tiefen stürzt ein pechschwarzer, feuerspuckender Schatten aggressiv jaulend auf mich und den Flakrücken zu. Zum Kollateralschaden will ich nicht sterben, da bin ich flugs unter dem Bogen, wie schön verziert – ist das römisch? – wo bleiben die Kugeln? – ich strampele weiter wie verrückt, Salven im Rücken, die Flak rührt sich noch immer nicht – nur Attrappe? – gebaut, um mich zu treffen? –, verloren eine schwebende Wand mir plötzlich den Weg versperrt, aus dem Nichts hingeworfen, die Schwere, ich reiße den Lenker rum, die Kugeln platzen vor mir in den reinweißen Putz, ich gleite in den Todeshagel, jetzt zerfetzt, gen Flugzeug, ein letztes Mal, Herzschlag, Finale: Regenbogenfarben purzeln in Zeitlupe Zuckerdrops wie Blutkörperchen im Mikroskop aneinanderstoßend aus der lichtblauen Leinwand, neben mir Kamillenblüten aus Ls Haarkranz.
    Ich reibe mir die Augen wach und setze mich auf. Im Tal liegen blutbraune Dächer im Morgendunst. Ostermontag. Nächte wie kalter Kaffee, Tage bestrahlte, milchdurstig frühlingswarme Erde, es wird hell. Der Morgen hängt blass in Hügeln, die seicht an schroff aufragende Felsen branden. Den Gipfelring hatte ich verlassen, süßsäuerlichen Duft vermodernder Pappelblätter im Frühherbst, schneereiche, schnell einsetzende Winter der Hochebene, Märzchen und Schneeglöckchen, glutheiße Sommer. Vorbei war das. Mutters Abschied, aufgelöst in tauber Paralyse, Vaters ferner, gebrochener Blick, als starre er in vergangene Leere. Ich spürte meine Beine nicht mehr.
    Im Dorf heult röchelnd ein Traktormotor auf. Elf Tage wandere ich jetzt schon, die Schultern striemig von meinem Schweizer Armeerucksack. Fünfzig Gramm Speck, zwei trockene Brotscheiben und einen fleischbraunen Apfel habe ich noch. Pudrig brechende Lederschlaufen. Ein junger Laubfrosch schaut mir glupschäugig von einer Trauerweidenwurzel zu. Ich schöpfe weiches Quellwasser, wasche Gesicht und Hände, spüle den Beutel und fülle ihn. Im Norden verschwindet eine verwitterte Autobahnbrücke in fleuchenden Dunstschwaden, gen Westen halten die Pfeiler nur noch Teilstücke. Hier blühen die Kirschbäume schon.
    Die Luft schmeckt süß jetzt, nach dem Waschen. Ich gehe zurück zur Buche und ritze L & O in die Rinde. Großvaters Klappmesser und einen noch älteren Füller mit weicher Goldfeder hatte Vater beim Abschied mir geschenkt. Beides solle ich gebrauchen.
    Ich notiere:
    13. April. Gut geschlafen. Ein Tag noch bis Kloster Amhausen. Erste Zeichen der Moderne. Wetter schön. Leichter Ostwind. Übermorgen wird es regnen. Kontakt: Negativ. Proviant: OK. Sukzessiv steigende Erregung. Basis ruhig, entschlossen. Front scheint fern. Es naht.
    Vor dem Zuklappen lese ich die erste Seite:
    20. März. Die Welt taumelt am Abgrund, wird gesagt. Das wurde immer schon gesagt. Potenziertes Orange ist das. Im Dorf der Hilferuf als Flugblatt:
    » Im Nichts schweben wir, in nihilistischer Fröhlichkeit betäuben sie sich. Johannitischer Freudentaumel. Dionysos. Sie stehlen sich selbst das Leben. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Denn wir wissen nicht, wohin. Denn wir sind verloren.«
    Freies Kloster Amhausen
    Der Wahnsinn spricht aus diesen Zeilen. Wie schön Elstern sind. Wanderer berichten, es sei zu spät.
    Es war nicht leicht gewesen, Ersatz für Feldarbeit zu finden. Bedrohlich nah sei die Front dem Bergmassiv gekommen, inzwischen hätte sie den Rhein erreicht. Amhausen sei dreimal verloren und dreimal wiedergewonnen worden, vor dem Fall beider Armeen, nur das Kloster hätten sie verschont. Ich will mir keine Vorstellung vom Ausmaß der Zerstörung machen. Zu schön war das, als ich auf Lehrwanderschaft gewesen war, dunkle, gleich grell strahlende Jugendjahre. Das Rauchgas schlierte damals noch als stille, von heller Ferne kündende Kondensstreifen im Himmel. Es heißt, es hätte sich auf die Welt gelegt, mache sie stumpf, taub, zur

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