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Der Clown ohne Ort

Der Clown ohne Ort

Titel: Der Clown ohne Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Martini
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heulenden Finsternis.
    Jetzt also wieder Jugendpfade entlang. Ich meide das Tal, halte mich am Rand des Bergmassivs und laufe nach Süden. Einen halben Tagesmarsch entfernt werde ich nach Westen biegen, wo am Rand der Donauebene Amhausen liegt. Das, was davon übrig geblieben ist zumindest.
    Es heißt, von Basel bis Brüssel bekriegten sich noch Reste der Rebellen und Unionsarmeen in einem dreißig bis fünfzig Kilometer breiten Streifen. Es heißt, im Rest des Reiches minimierten sie in sporadisch aufkeimenden Guerillabataillen die Bevölkerung, acht Jahre schon dauere dieser Krieg. Es heißt, es sei ein totaler Zusammenbruch gewesen, die technische Revolution hätte ihre Kindsväter gefressen. Im Kleinen ginge es jetzt weiter. Auf dem Land herrsche die trügerische Ruhe des Mittelalters, unterbrochen von sporadischen Raubzügen der Städter, die mordend und vergewaltigend »Ausflüge aufs Land« unternähmen. Einfach seien die Waffen wieder geworden, mit Äxten und Beilen, selten einer Pistole, noch seltener einem Schnellfeuergewehr gingen die Banden aufeinander los, fast vollständig seien die Länder in sich selbst verwaltende Einheiten zerfallen, kommunal libertär nenne man sich jetzt. Verändert habe sich die Welt. Unter dem Rauchgas zerfließe den Menschen die Gegenwart in dumpfe Ahnungen einer bitteren Zukunft. Und ich, ich sehe patinierte Morgenröte mit Appetit auf kretisches Frühstück: frisch gepresster Orangensaft, Ziegenmilchjoghurt und Thymianhonig aus nahen Hainen, glitzernde Lichtteppiche auf krausen Wellen, Mittelmeer, Fernweite vergangener Lieben, Fettspatzen, verschmitzt wie je. Man sagt, sie sei nicht einfach, meine Aufgabe, unlösbar sei sie, sagt man. Es ist nicht leicht, so ganz ohne Götter. Man ist ihnen hier tot. Wie aber kann es sein, dass sie nicht wissen, dass es auferstand?
    Bald werde ich das Tal erreichen. Der Dunst wird dichter, lauer Südwind. Es ist zu warm für April. Sandiger wird der Boden auf meinem Abstieg. Ich biege in den Apfelhain, an dessen Ende, nach einem kurzen Anstieg durch den Wald, die Idylle vergangener Jahre liegt, Wiese und Walnussbaum, damals noch mit L. Bis Amhausen reichte die Aussicht bei gutem Wetter. Auf der anderen Talseite sind Bauern in den Reben, durch die Baumkronen sehe ich rote, schwer knatternde Traktoren. Von rechts nagt eine teichgroße Pfütze am Weg. Laichballen treiben wie Kaviarpfannkuchen auf ihr. An den flacheren Stellen zappeln Kaulquappen im pulvrigen Schlamm. Rive Gauche. Ich habe Hunger.
    Ich setze mich kurz an den Wegesrand und lockere die Schnürung meiner Schuhe. Sie waren treue Begleiter geblieben. Zwei Wochen lang hatte ich Blasen gehabt, Mutter sie zu einem Fehlkauf erklärt und umtauschen wollen. Das wird schon, hatte Vater gesagt. Knapp zwanzig Jahre war das her. Es sollte mein bequemstes Paar bleiben. Farbspritzer sehe, Rom und Paris denke ich, dunkles, zeitgegerbtes Leder, Kratzer spitzer Zäune, Beulen meiner Zehen, durch Bequemlichkeit glattpolierte Hinterkappen. Ich stehe wieder auf, schwer, seufzend, wie man das so macht vor einer letzten Anstrengung, greife aus der Jackentasche den Brief meines Vaters, den er mir während meiner ersten Wanderung geschrieben hatte, und lasse mich lesend in die beruhigende Monotonie meiner Schritte fallen.
    Mein Sohn,
    es ist schön zu hören, dass es Euch gut geht. Es freut und beruhigt, Euch wohlbehalten zu wissen. Wir sind zuversichtlich und wünschen Euch weiterhin viel Glück auf Eurer Suche. Ich staunte, als ich las, sie sei notwendig und unnütz zu gleichen Teilen. Ihr macht Euren Weg. Wisse Deine Eltern stolz auf ihren Sohn.
    Der Frühling hat Einzug gehalten. Einem ungewöhnlich langen und milden Winter hat er sich entwunden, vor wenigen Tagen noch spreizte er seine Arme mit Wucht gen Himmel, fällt jetzt mit brüllender Sommerhitze übers Land, nur die Nächte sind kälter als im Hochsommer. Es ist zu trocken für April.
    Deine Unterstützung fehlt. Wir mussten zwei Hilfskräfte östlich des Ringes suchen, haben auch arbeitsamen, zuverlässigen Ersatz gefunden.
    Lange hast Du unsere Lebensweise verpönt, beizeiten gar als kleinbäuerliche Flucht in Idyllenidealismus verhöhnt – Ha! Was für ein Gereime! – und doch: Ich meine, in Deinen Briefen eine untergründige Sehnsucht nach Ruhe und Gleichmut zu spüren, die ich immer als größte Vorzüge unserer Lebensweise beschrieb. Ist dem so? Vielleicht ist dies nur trügerische Hoffnung eines alt werdenden, sehnenden Vaters, der

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