Der Club der Lust
Laufen zu haben, das kleine, verschlagene Biest!»
Alex kicherte, doch in dem Moment, noch bevor Natalie ein weiteres Mal zu Patti schauen oder einen nächsten Kommentar abgeben konnte, geschahen zwei Dinge: Die Kellnerin kam mit einer Flasche in einem Kühler und zwei Gläsern an ihren Tisch, und die bereits gedimmte Beleuchtung wurde noch etwas dunkler gedreht. Natalie sah sich noch einmal nach ihrer Schwester um – diesmal in der Hoffnung, Augenkontakt mit ihr aufzunehmen, um sie wissen zu lassen, dass sie anwesend war und unbedingterfahren wollte, was hier vor sich ging. Doch das Licht war bereits zu dunkel, und Natalies Aufmerksamkeit wurde erneut von einem flüchtigen Blick abgelenkt, den sie auf ein Gesicht ein paar Meter hinter Pattis Tisch erhaschte. Erkennen konnte sie nichts. Die Einschränkung der Sicht erlaubte ihr nicht mehr als einen Eindruck …
Whitelaw Daumery?
Das war doch ausgeschlossen. Nicht an
diesem
Ort. Mr. Blitzsauber würde sich doch wohl unter keinen Umständen in dieser billigen, geschmacklosen Lasterhöhle blicken lassen.
Natalie starrte in das dunkle Knäuel sitzender Menschen, konnte jetzt aber gar nichts mehr erkennen. Das Scheinwerferlicht, das jetzt auf die Bühne gerichtet war, blendete den Rest des Raumes vollständig aus.
Da meldete sich der Pianist zu Wort. «Und jetzt ist es mir eine Freude und ein Vergnügen, Ihnen unsere Gastgeberin, die großartige, die sensationelle, die göttliche Miss Stella Fontayne anzukündigen.»
In dem Moment, in dem das Rampenlicht erstrahlte, vergaß Natalie Whitelaw Daumery völlig.
Stella? Ach du Heiliger, das war Pattis Dragqueen? Die neue Kundin, die eine Vorliebe für glänzende Stoffe hatte? Ein Einzelscheinwerfer warf einen leuchtenden Kreis auf die kleine Bühne, und eine Sekunde später trat eine große, farbenfrohe Figur hinter dem Vorhang hervor. Eine Mann-Frau, die genau das dunkelblaue Kleid trug, das Natalie zuletzt im Wohnzimmer ihrer Schwester gesehen hatte.
Doch so eine Dragqueen hatte Natalie noch nie in ihrem Leben gesehen. Sie unterschied sich bei weitem von den glitzernden Barbies im Publikum und auch von jedem Travestie-Künstler, den Natalie je im Fernsehen, in Clubs oder auf Partys erlebt hatte. Und sie hatte schon viele gesehen. Sie rissen gewagte Witzchen auf Frauenpartys. Sie überbrachten in FrauenkleidernGeburtstagsglückwünsche und sangen Playback zu irgendwelchen Schwulenklassikern und Musicalnummern. Doch in all diesen Fällen hatte es sich um übertriebene, aufgetakelte, zu stark geschminkte und grelle, ja fast barbarische Geschöpfe gehandelt. Einen wirklich schönen Transvestiten hatte Natalie noch nie gesehen. Bis eben jetzt, wo diese Diva vor ihr stand, die sich in der ungeteilten Aufmerksamkeit des staunenden Publikums sonnte.
«Guten Abend, meine Damen und Herren», begrüßte Stella das Publikum mit einem sanften, geheimnisvollen Lächeln und blickte mit glühenden, dunkel umrandeten Augen ins Publikum, «und willkommen im
Fontayne’s
…»
Stellas Stimme war eindeutig verstellt und speziell für ihre Rolle kultiviert. Doch auch sie hatte nichts grotesk Übertriebenes. Die femininen Töne überlagerten einen vollen, dynamischen Bariton, und Natalie vermutete hinter der Rolle ganz klar ein Schauspielstudium. Während sie mit unverhohlenem Entzücken zuschaute und zuhörte, vergaß sie Daumery, Patti und sogar Alex Hendry neben ihr. Sie vergaß all die Gedanken über ihre Story, deren Erfolg oder Misserfolg und auch ihre Jobängste beim
Modern Examiner.
Das ist Unterhaltung in ihrer reinsten Form, dachte sie mit bewunderndem Lächeln und hörte dem leichten Geplauder der Dragqueen zu, das erstaunlich niveauvoll war und sich mit schmutzigen Witzen sehr zurückhielt.
«Aber jetzt wird es langsam Zeit, meine lieben Freunde», sagte Stella nach einer Weile und nickte ihrem Pianisten zu, «es wird Zeit, dass ihr mich gewähren und mich ein kleines Lied singen lasst.» Das Murmeln im Raum war eher zustimmend als ablehnend, doch der Transvestit blieb in seinem Tenor. «Aber schließlich ist das hier mein Club.» Sie hielt lächelnd inne und nickte dann noch einmal dem Klavierspieler zu.
«There’s a saying old, says that love is blind …»
Natalie hatte zunächst keine Ahnung, welchen Song sie da hörte. Stella musste schon das halb gesprochene, halb gesungene Intro des Stückes zu Ende schnurren, bis die Besucherin des Clubs das Lied erkannte.
«There’s a somebody I’m longing to see
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