Der Code des Luzifer
musste seinen ganzen Willen aufbieten, um der Stimme zu gehorchen. Der Bär rollte ihn mit den Tatzen hin und her, beschnüffelte mit geiferndem Maul und stinkendem Atem seine Brust, aber Max behielt die Arme fest vor dem Gesicht verschränkt und die Knie hochgezogen. Er bekam einen Tritt oder jedenfalls fühlte es sich so an – der Bär hatte ihn angestupst wie ein Spielzeug – und die Wucht des Schlags schleuderte ihn durch die Luft.
Max würde diesen Angriff nicht überleben.
Er riskierte einen Blick zwischen seinen Armen hindurch und sah, dass der Bär, nachdem er ihn ein paar Meter zur Seite geworfen hatte, nun aus unerfindlichen Gründen zögerte, seine Attacke fortzusetzen. Er hob den Kopf, schnüffelte und starrteMax an. Die nächsten Sekunden waren entscheidend für Max’ Überleben. Die Hütte war unerreichbar und der Bär schien kein Interesse an den Vorräten zu haben, die nur fünf Schritte entfernt hinter der zertrümmerten Klappe des Vorratsbunkers auf ihn warteten.
Max hatte nur eine Chance.
Er stand auf, stellte sich dem Ungeheuer entgegen und schrie, so laut er konnte. Der Schrei schwoll zu einem donnernden Gebrüll an, das wie ein Nebelhorn aus seiner Brust dröhnte.
Der Bär hielt inne.
Max rannte zu dem Vorratsbunker. Eins, zwei, drei Schritte. Vier …
Der Bär stürmte wutentbrannt seiner fliehenden Beute nach.
Fünf!
Max warf sich auf die Kadaver: Rümpfe, Keulen und Köpfe von Schafen, Ziegen und Rehen. Nicht alle waren steinhart gefroren und es stank entsetzlich. Und schon war auch der Bär da. Das Mauerwerk widerstand seiner Kraft, sodass er nur eine Tatze und den Kopf zum Eingang hineinstecken konnte. Max schob sich nach hinten, um außer Reichweite zu gelangen, stieß aber bald an die Rückwand. Der Verschlag war nur anderthalb Meter tief. Noch ein kräftiger Stoß mit der Tatze und der Bär schlug ihm seine Krallen in den Kopf wie in eine reife Pflaume.
Als der Bär mit der Schnauze auf die Kadaver stieß, brachen sich plötzlich seine Instinkte Bahn. Er zerrte eine Rehkeule ins Freie, klemmte sich das Fleisch zwischen die Kiefer und zog zufrieden davon – jetzt, wo er seinen Hunger stillen konnte, war die Wut schnell verraucht.
Max wartete noch eine Weile, bis er sicher sein konnte, dassder Bär sich hinter die weiter entfernten Felsen zurückgezogen hatte. Dann kroch er aus dem Vorratsbunker und sah nach, ob noch alles in Ordnung mit ihm war. Der Bär hatte praktisch nur mit ihm gespielt. Die Krallen hatten den Rücken seiner Jacke aufgeschlitzt und Federn quollen daraus hervor und flogen mit dem Wind davon wie Löwenzahnsamen. Max tastete seinen Hinterkopf ab, und als er schließlich seine Hand besah, klebte Blut daran. Der Gestank in seinen Kleidern schien seinen ganzen Körper zu durchdringen.
Der Kampf mit dem Bären hätte schlimmer ausgehen können. Er hatte sich weder ein Bein noch das Genick gebrochen, er lag nicht hilflos auf diesem Berg und wartete nur noch auf den Tod. Adler, Wölfe, Geier, Regen und Wind würden ihn nicht bis auf die Knochen abnagen. Er hatte Glück gehabt.
Bruder Zabala war ein wilder Mann der Berge gewesen. Seine Überlebenskünste hatten ihm geholfen, sich hier oben durchzuschlagen, und obendrein war es ihm gelungen, sich mit den wilden Tieren hier zu verbünden. Um das zu erreichen, musste man sehr zäh und klug sein.
In der Bergwildnis hatten Tag für Tag Gefahren auf ihn gelauert, aber erst ein noch grausamerer Eindringling hatte ihm den Tod gebracht. Die Brutalität eines Menschen war erschreckender als die natürlichen Instinkte eines wilden Tieres.
Nachdem Max jetzt die Hütte des Mönchs gefunden und das Foto gesehen hatte, war ihm der Mann ein noch größeres Rätsel als zuvor. Vielleicht war der Entschluss, Einsiedler zu werden, gar keine so einfache, unkomplizierte Sache. Zabala, ein gebildeter Mann, hatte ganz bewusst entschieden, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und sein Geheimnis für sich zu behalten. Und dann hatte er dieses Geheimnis an Max weitergegeben – Luzifer und den Anhänger.
Nun, bis hierhin hatte Max es geschafft. Er hatte herausgefunden, wer der Mönch war, wo und wie er gelebt hatte, und das alles hatte ihm zu neuen Erkenntnissen über den Mann verholfen.
Er schaute über die Gipfel. Am Morgen würde es schneien. Die lange, weiche Linie der mit Niederschlag gefüllten Wolke am Horizont würde übers Meer heranziehen, von der kalten Gebirgsluft zusammengedrückt werden und Schnee auf die tiefer
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