Der Codex
bevorstehenden Auseinandersetzung eine wichtige Ro l le. Ich bitte euch, für uns zu beten. Ich bitte euch, für uns ein Opfer zu bringen. Ich bitte euch, dies jeden Tag zu tun, bis wir sie g reich zurückkehren.«
Borabay wiederholte die Deklaration mit schallender Stimme, und ihre Auswi r kung war elektrisierend. Die Menschen strömten aufgeregt murmelnd nach vorn. Tom fühlte sich irgendwie von verzweifelter Sinnlosigkeit übe r wältigt. Diese Me n schen trauten ihm mehr zu als er sich selbst.
Eine heisere Stimme wurde laut. Die Leute wichen auf der Stelle zurück, bis Cahs Gattin allein da stand, auf ihren Stock gestützt. Sie schaute auf und nahm Tom genau in Augenschein. Langes Schweigen machte sich breit, dann hob sie schließlich ihren Stock, holte aus und versetzte ihm einen festen Schlag auf die Oberschenkel. Tom gab sich alle Mühe, weder zu zucken noch das Gesicht zu verziehen.
Dann rief die Greisin mit heiserer Stimme etwas, das er nicht verstand.
»Was hat sie gesagt?«
Borabay wandte sich um. »Ich nicht wissen, wie übersetzen ... Sie sagen starke T a ra-Redensart. Bedeuten so viel wie Du töten oder sterben.«
57
Professor Julian Clyve legte die Beine hoch, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich in den alten Sessel zurück. Es war ein stürmischer Tag im Mai, und der Wind zerrte an den Blättern der Sykomore vor seinem Fe n ster. Sally war nun seit über einem Monat fort. Sie hatte ihm keine Nachricht geschickt. Er hatte auch nicht damit g e rechnet, doch das lange Schweigen beunruhigte ihn nun doch. Als sie abg e reist war, waren sie davon ausgegangen, der Codex würde seinem Leben einen weiteren akadem i schen Triumph hinzufügen. Doch nach ein, zwei Wochen des Nac h denkens hatte Clyve es sich anders überlegt. Er war ein hochkarätiger Gelehrter; er hatte einen Lehrstuhl in Yale; er hatte jede Menge akademische Ehrungen eing e heimst und mehr publiziert als andere Professoren in ihrem ganzen Leben. Tatsache war, dass weitere akademische E h rungen ihm gestohlen bleiben konnten. Er wollte sich nicht in die Tasche lügen: Er brauchte Geld. Die Werte der amer i kanischen Gesellschaft stimmten nicht. Die wahren Belo h nungen - finanziellen Wohlstand - kriegten nicht die inte l lektuellen Macher, denen sie am meisten zustanden. Der Brain Trust, der die riesige dumme Viehherde, das vulgus mobile, lenkte, dirigierte und di s ziplinierte, ging leer aus. Wer sackte die große Kohle ein? Fatzken aus der Sportbra n che, Rockstars, Schauspieler und Konzernbosse. Und er saß hier rum, hatte das Ende der Karriereleiter erreicht und verdiente weniger als ein Durchschnittsklempner. Es war eine Frechheit. Es war ungerecht!
Wo er auch aufkreuzte, stürzten die Menschen sich auf ihn, zerquetschten ihm fast die Hand, lobten und bewu n derten ihn. Alle Reichen von New Haven wollten seine B e kanntschaft machen, ihn zum Abendessen einladen, ihn einsacken und mit ihm a n geben, als sei er das Gemälde eines alten Meisters oder ein antikes Stück Silber. Es war nicht nur abscheulich, es war auch demütigend und teuer. Fast jeder, den er kannte, hatte mehr Geld als er. Welche Ehru n gen er auch einheimste, welche Preise man ihm für seine Monographien verlieh: Er konnte noch immer nicht in e i nem halbwegs guten Restaurant von New Haven die Pu p pen tanzen lassen. Andere li e ßen die Puppen tanzen. Sie luden ihn zu sich ein. Man lud ihn zu Wohltätigkeitse s sen ein, bei denen schwarze Krawatten Pflicht waren und man für den Tisch bezah l te, an dem man saß. Man wehrte seine heuchlerisch vorgebrachten Angebote ab, se i ne Spesen selbst zu tragen. Und wenn alles vorbei war, musste er sich in sein empörend mickriges kleines Eigenheim im Akad e mikergetto verziehen, während sie in ihre Landhäuser auf den Heights heimfuhren.
Nun hatte er endlich ein Mittel, dies zu verändern. Clyve warf einen Blick auf den Kalender. Es war der 31. Mai. Morgen war die erste Rate der zwei Millionen fällig, die der Schweizer Pharmakonzern Hartz ihm zahlen wollte. Die kodierte Bestätigung müsste bald per E-Mail von den Ca y man-Inseln eintreffen. Natürlich musste er das Geld auße r halb der Vereinigten Staaten ausgeben. Eine schnieke Villa an der Costi e ra Amalfitana war bestimmt ein schöner Ort, um es zu deponieren. Eine Million für die Villa, die zweite Million für die Spesen. Ravello sollte angeblich sehr reizvoll sein. Er und Sally konnten dort ihre Flitterwochen verbri n gen.
Er dachte an die
Weitere Kostenlose Bücher