Der Codex
Steinfestung, die wohl von den Urbewohnern errichtet worden war, um die Weiße Stadt zu schützen. Hauser und seine Leute hatten vor der Brücke eine lange Grasnarbe gerodet, um ein übersichtliches Schussfeld zu haben.
Der Weißen Stadt gegenüber, nicht fern von der Brücke, strömte ein Bach aus den Bergen herab und stürzte sich in die Schlucht, wobei er sich in filigrane weiße Fäden ve r wandelte, um dann im Dunst darunter zu verschwinden. Während Tom den Fluss in Augenschein nahm, stiegen Schwaden aus der Schlucht empor, hüllten die Hängebrü c ke ein und blockierten ihm schließlich auch die Aussicht auf die Weiße Stadt. Der Dunst teilte sich, die nächste Woge wallte auf. Auch sie löste sich in einem sich ständig wi e derholenden Ballett aus Finsternis und Licht auf.
Tom fröstelte. Vermutlich hatte sein Vater vor vierzig Jahren ebenfalls an dieser Stelle gestanden. Zweifellos hatte auch er die schwachen Umrisse der Stadt in dieser chaot i schen Vegetation erkennen können. Hier hatte er seine erste Entdeckung g e macht und sein Lebenswerk begonnen. Und hier hatte er geendet, lebendig eingeschlossen in eine finst e re Grabkammer. Die Weiße Stadt war das Alpha und Om e ga seiner Laufbahn.
Tom reichte Sally das Fernglas. Sie betrachtete die Weiße Stadt sehr lange. Dann ließ sie das Glas sinken und schaute Tom an. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. »Es ist eine Maya-Stadt«, sagte sie. »Es gibt einen zentralen Platz für die Ballspiele, eine Pyramide und einige mehrstöckige G e bäude. Absolut klassisch. Die Menschen, die sie gebaut h a ben, stammten - da bin ich mir sicher - aus Copán. Mögl i cherweise haben sie sich nach dem Untergang Copans im Jahr 900 hierher zurückgezogen. Ein großes Rätsel ist g e löst.«
Ihre Augen funkelten, ihr goldenes Haar leuchtete in der Sonne. Tom hatte sie noch nie von solcher Lebenskraft sprühen gesehen. Nach dem wenigen Schlaf, den sie g e habt hatten, erschien ihm das wirklich erstaunlich.
Sally drehte sich um und schaute ihm in die Augen. Tom hatte den Eindruck, dass sie seine Gedanken erriet. Ihre Wangen röteten sich leicht, dann schaute sie weg und l ä chelte vor sich hin.
Philip nahm das Fernglas an sich und unterzog die Stadt einer Prüfung. Tom hörte ihn überrascht Luft holen. »Da unten sind Menschen«, sagte Philip. »Sie fällen vor der P y ramide Bäume.«
Man hörte das ferne Krachen von Dynamit. In der Stadt stieg eine Staubwolke auf, die wie eine kleine weiße Blüte aussah.
»Wir müssen Vaters Grabkammer vor ihnen finden«, sa g te Tom. »Sonst ...« Er ließ den Satz unbeendet.
59
Sie verbrachten den restlichen Nachmittag im Schutz der Bäume und beobachteten Hauser und sein Gefolge. Ein Kommando befreite einen Steintempel vor der Pyr a mide vom Bewuchs, während ein anderes sich in eine kleinere Pyramide in der Nähe hineinsprengte. Der umschlagende Wind ließ sie etwa alle halbe Stunde das schw a che Heulen einer Kettensäge und das ferne Grollen von Explosionen hören. Dann stiegen Staubwolken auf.
»Wo ist Vaters Gruft?«, fragte Tom Borabay.
»Auf Klippen unterhalb von Stadt, auf andere Seite. Ort von Toten.«
»Kann Hauser ihn finden?«
»Ja. Weg nach unten ist versteckt, aber irgendwann er ihn finden. Vielleicht mo r gen. Vielleicht zwei Wochen.«
Bei Einbruch der Nacht flammten in der Weißen Stadt zwei Jupiterlampen auf. Zwei weitere erhellten die Häng e brücke und das sie umgebende Gelände. Hauser ging kein Risiko ein. Außerdem war er gut ausgerüstet, er hatte sogar einen Generator dabei.
Sie verzehrten schweigend das Abendessen. Tom schmeckten die Frösche, Eidec h sen oder woraus Borabays Mahlzeit auch immer bestand, nicht besonders. Soweit er es von ihrem Aussichtspunkt auf dem Kamm sehen konnte, war die Weiße Stadt auf Abwehr bestens eingerichtet und fast uneinnehmbar.
Als sie mit dem Essen fertig waren, sprach Philip aus, was alle dachten: »Ich gla u be, wir machen lieber die Fliege und holen Verstärkung. Allein kriegen wir das nicht hin.«
»Angenommen, sie finden und öffnen die Gruft, Philip«, sagte Tom. »Was werden sie deiner Meinung nach dann tun?«
»Sie werden sie ausrauben.«
»Nein. Zuerst wird Hauser Vater ermorden.«
Philip antwortete nicht.
»Wir brauchen mindestens vierzig Tage, nur um hier wegzukommen. Wenn wir Vater retten wollen, müssen wir jetzt handeln.«
»Ich möchte zwar nicht derjenige sein, der es ablehnt, Vater zu retten, aber ... Tom, sei vernünftig, wir
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